Sie sollen eins sein

John Wesley (1703-1791), der Begründer der Methodistenkirche, hatte einen Traum. Er stand vor dem Portal der Hölle und fragte: „Was für Leute sind bei euch? Katholiken?“ Der diensthabende Teufel antwortete: „Ja, viele.“ „Auch Anglikaner?“ „Ja, viele.“ „Auch Lutheraner, Reformierte, Baptisten, Orthodoxe?“ Immer kam die gleiche Antwort: „Ja, viele.“ Wesley fragte weiter: „Auch etwa Methodisten?“ „Ja, viele“, war die Antwort. Betrübt ging er seines Weges und langte vor der Himmelspforte an. Auch hier stellte er dem Engel vom Dienst die gleichen Fragen: „Sind hier Katholiken?“ Die Antwort lautete: „Nein, kein einziger.“ „Aber Lutheraner, Reformierte und Baptisten sind doch hier?“ Aber auch hier erhielt er auf jede Frage die gleiche Antwort: „Nein, kein einziger.“ Hoffnungsvoll erkundigte er sich weiter: „Dann sind im Himmel nur Methodisten?“ „Nein, kein einziger.“ Erschrocken fragte er: „Ja, was für Leute sind denn im Himmel?“ Der Engel gab zur Antwort: „Hier gibt es nur Christen!“

Ja, im Himmel gibt es nur Christen, aber hier auf Erden gibt es Katholiken, Orthodoxe, Lutheraner, Reformierte, Anglikaner, Methodisten und viele andere Glaubensgemeinschaften. Man kann sagen: „Gott, der Herr, hat sie gezählet!“

Woher also die verschiedenen Kirchen und Glaubensgemeinschaften? Sie alle berufen sich auf Christus. Hat Er es so gewollt? Keinesfalls. Er betonte doch beim letzten Abendmahl: „Vater, sie sollen eins sein‚ wie wir eins sind.“ Christus betete um die Einheit — und wir haben das Gegenteil: die Vielheit. Somit ist die Vielheit kein Christuswerk, sondern ein Christenwerk.

Welche sind die Ursachen dieser Vielheit? Eine Ursache: Die Beschränktheit des menschlichen Geistes. Kein Mensch kann Gott ganz erfassen und begreifen. Gott ist unendlich größer als jeder menschliche Verstand. So ist es auch mit seiner offenbarten Wahrheit. Der menschliche Verstand kann niemals die ganze Wahrheit erfassen, sondern immer nur Teile, die er in seiner Beschränktheit für die ganze Wahrheit hält. Wenn nun verschiedene Menschen verschiedene Teile erfassen, so kommen sie zu verschiedenen Resultaten und – die Vielheit ist da! Auch der Apostel Paulus bekennt: „Unser Erkennen ist Stückwerk.“

Das ist nicht nur in religiösen Dingen so. Auch in der Wissenschaft gibt es oft mehrere Hypothesen über ein und dasselbe Problem. Und erst in der Philosophie. Da gibt es so viele Systeme, Theorien und gegensätzliche Weltanschauungen, dass einem schwindlig wird. Und gar in der Politik! Wer kennt die Namen aller Parteien in den Ländern? Alle behaupten, sie allein hätten die richtige Lösung in der Hand. Hinzu kommt noch der allen Sprachen anhaftende Mangel an entsprechender Ausdrucksfähigkeit. Vielen Sprachen fehlen die notwendigen geistigen Begriffe, um eine Wahrheit richtig ausdrücken zu können. Wie sollen da die Sprachen die göttliche Wahrheit in menschliche Worte kleiden? Das ist fast so schwer, wie einen Riesen in die Kleider eines Zwerges stecken zu wollen.

Die zweite Ursache steckt in menschlichen Charakterschwächen. Mancher Theologe bildet sich ein, er allein durchschaue die Dinge bis auf den Grund. Er weiß alles besser als die anderen und hält seine Beweisführung für unwiderlegbar. Ein anderer beruft sich auf Sonderoffenbarungen, die er von Gott erhalten habe und hält sich für ein „Sprachrohr Gottes“.

Wer sich diese Dinge vor Augen hält, hat die Erklärung dafür, warum es im Himmel nur Christen, auf Erden aber viele christliche Konfessionen gibt. Das große Anliegen aller einsichtigen Christen geht dahin, das Gebet Christi „Sie sollen alle eins sein“ möge in Erfüllung gehen.

Die gelehrten Theologenköpfe bemühen sich um die Einheit der Lehre. Wir alle wünschen ihnen Erfolg. Aber wir Laien versuchen die Einheit auf einem anderen Weg zu fördern. Die Gelehrtensprache der Theologen ist uns mehr oder weniger unverständlich. Aber wir verstehen doch alle die Sprache des Herzens. Suchen wir deshalb die Einheit in der Liebe. Es ist die Sprache, die jeder verstehen kann. Keine andere Sprache der Welt kann Vorurteile so rasch abbauen wie die Sprache der Liebe. Sprechen wir in dieser Sprache zu Christen, die nicht zu unserer Kirche gehören. Wir sollen in jedem Getauften nicht einen Gegner, sondern einen Bruder und eine Schwester sehen… So helfen auch wir mit, dass das Gebet Christi in Erfüllung geht: „Sie sollen alle eins sein!“