„Siebenbürgen, eine bedeutende Pionierregion der Religionsfreiheit“

Interview mit Dr. Ulrich A. Wien, einem langjährigen Betrachter der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien

Ulrich A. Wien im Gartengelände rings um das evangelische Pfarrhaus und die siebenbürgisch-sächsische Kirchenburg Holzmengen/Hosman/Holcmány – regionale Kulturgeschichte kann heute in städtischen Archiven erlesen, muss aber vorrangig in der archaischen Dorflandschaft ausgekostet werden. Foto: Klaus Philippi

Ulrich A. Wien (Jahrgang 1963) ist in Rheinland-Pfalz aufgewachsen und hat evangelische Theologie in Heidelberg und Tübingen studiert. 1998 wurde er mit der Dissertation „Kirchenleitung über dem Abgrund. Bischof Friedrich Müller vor den Herausforderungen durch Minderheitenexistenz, Nationalsozialismus und Kommunismus“ an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg promoviert. Während des Vikariats 1994-1997 in der Pfälzischen Landeskirche hat er 1996 auch drei Monate an der Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin (EZW) gearbeitet. Seit über zwanzig Jahren ist er am Institut für Ev. Theologie der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau), inzwischen als Akademischer Direktor, und seit 18 Jahren als ehrenamtlicher Vorsitzender des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde e.V. tätig.
Noch während seines Studiums hat er 1991 erstmalig Siebenbürgen besucht und es zu seiner liebsten Forschungsheimat erklärt, die ihn bis heute nicht loslässt. Ulrich A. Wien kennt sich darin besser aus als manch ein Einheimischer und hat meisterlich die international besetzte Jubiläumstagung „Grenzen überschreiten. 500 Jahre Reformation in Siebenbürgen. 70 Jahre Protestantisch-Theologisches Institut“ in der Evangelischen Akademie Siebenbürgen in Neppendorf/Turnișor (EAS, 31. Oktober – 3. November) moderiert, die mit simultaner Übersetzung in rumänische Sprache stattfand.
Am eröffnenden Vormittag sprach er in seinem Grußwort freundlich herausfordernd davon, dass die Konferenz unter anderem auch veranstaltet würde, „damit die Siebenbürger Sachsen nicht nur im eigenen Saft schmoren“. Klaus Philippi traf Ulrich A. Wien Sonntag, am 3. November, zum Gespräch während einer Tagungs-Exkursion durch das Harbachtal sowie nach Meschen und Mediasch.

Was hat Sie auf ihren ersten Reisen nach Siebenbürgen und Rumänien begeistert, und welche Bilder haben Ihnen zu denken gegeben oder Sie während des Kennenlernens von Land und Leuten gar kritisch gestimmt?
Im März 1991 war ich zum allerersten Mal in Rumänien mit einer studentischen Exkursion im Kleinbus unterwegs. Wir besuchten auch Großau bei Hermannstadt. Die riesige Ausreise-Welle unter den Siebenbürger Sachsen und Landlern war da schon vorbei. Ich war schon erstaunt. In Großau waren viele Häuser verlassen, geschlossene Läden fielen mir auf. Aber da gab es Häuser, die jüngst erst vom Putz befreit worden waren, um renoviert zu werden. Doch die ehemaligen Bewohner hatten mitten in der Arbeit quasi den Hammer fallen gelassen und waren ausgewandert.

Aber die Langzeitentwicklung, die hinter der massenhaften Emigration stand, die hat doch bestimmt bald Ihr Interesse geweckt!
Klar, ich wollte Antworten auf meine Fragen finden. Zuerst dachte ich, das sei den Erfahrungen der Nachkriegszeit geschuldet. Meiner Meinung nach führen aber die Spuren bis in die Zwischenkriegszeit und teilweise davor zurück, denn die Siebenbürger Sachsen sind ansatzweise schon im 19. Jahrhundert, besonders aber während der 30er-Jahre nachhaltig ‘germanisiert‘ worden, wenn man es in etwa so benennen will. Das Selbstverständnis vieler hatte sich verändert: vom Siebenbürgischen zum „Volksdeutschen“, wie man das damals formulierte. Und die wenig erfreulichen Umstände nach 1944 in Rumänien haben neben einer teilweisen Retraditionalisierung auch eine weitere Entfremdung hervorgebracht.

Überaus problematisch war es, dass die vielen Siebenbürger Sachsen sehr selten eine Diskussionskultur gelernt hatten. Fähigkeiten zum Debattieren waren in ihren Reihen unterentwickelt! Das ist einer von mehreren Gründen, der die Entwicklung nach 1990 weder in Siebenbürgen noch im Westen einfach machte. Entwurzelte und verunsicherte Erwachsene fanden sich in der neuen Situation häufig nur schwer zurecht, und viele Kinder suchten verständlicherweise im Alltag unauffällig „unterzutauchen“, um möglichst nicht ausgegrenzt zu werden.

Vermuten Sie, dass eine Anpassung an den kulturellen Kurs der Nazis auch als Grund für spätere Auswanderungssehnsucht während des letzten Jahrzehnts unter kommunistischer Regierung gesehen werden kann? Wie deuten Sie den Werdegang des Siebenbürger Sachsentums, das damals noch richtig als Enklave galt?
Das ist zu pauschal formuliert. Aber ansatzweise hatte eine geistige Entwurzelung schon eingesetzt, die sich kombiniert mit widrigen Alltagserfahrungen zu einem Ausreisewillen verdichten konnte. Auch kamen idealisierte Vorstellungen vom Leben in Deutschland dazu, die durch die Eindrücke verstärkt werden konnten, die manche Besucher hinterließen. Nach der Auswanderung musste es dann zu Enttäuschungen und Verlusterfahrungen kommen, die von den Menschen je nach den Umständen mehr oder weniger gut verdaut worden sind. Viele Hinderungsgründe gab es: Manche Berufsbilder gab es in Deutschland nicht, und so empfanden nicht wenige ihre Situation als gesellschaftlichen Abstieg, was den Traum widerlegte, jenseits des Eisernen Vorhangs flössen Milch und Honig.

Um jedoch auf etwas zurückzukommen, das mich gleich zu Anfang meiner Erfahrungen in Siebenbürgen gefreut hat: das Singen im Hermannstädter Bachchor. Es hat mir tatsächlich über einige Hürden hinweggeholfen. Nicht zuletzt die bewusst selbstkritische Auseinandersetzung mit der Bachchor-Geschichte der Volksgruppenzeit belegte einen deutlichen Bewusstseinswandel bei der Chorleitung und im Chor selbst. Das kam mir auch entgegen. Auch wenn die Einheimischen mir gegenüber zunächst vorsichtig und zurückhaltend waren und den ausländischen Akademiker prüfend beobachteten, haben mir Lore Poelchau mit Andreas von Hannenheim, aber auch Irmele und Paul Philippi den Weg bereitet. Wer in Hermannstadt Rang und Namen hatte, sang meist im Bachchor mit. So hatte ich dann doch schnell Zugang gefunden und Vertrauen aufbauen können. Auf dieser Basis waren dann auch kritische Themen Gesprächsstoff. Und natürlich muss ich hier auch die großartige Gastfreundschaft erwähnen, die mir gewährt wurde!

Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen spannt sich über mehr als 800 Jahre. Noch vor Ende des 16. Jahrhunderts traten sie geschlossen dem von der Wittenberger Reformation geprägten evangelischen Glauben Augsburgischen Bekenntnisses bei. Man gerät leicht in Versuchung zu urteilen, dass das eine rasche, unverrückbare Entwicklung gewesen sei. Kann fachmännische Perspektive diese einfache Sichtweise bestätigen?
Das ist eine populäre Vorstellung, stimmt aber nicht. Immerhin dauerte es mehr als hundert Jahre, bis sämtliche durch die Reformation losgetretenen Folgeentwicklungen sich gefestigt hatten. Der evangelische Glauben Augsburgischen Bekenntnisses war schließlich nicht die einzige Neuerscheinung kirchlichen Lebens. Die calvinistische Kirche ist auch in genau dieser Zeit entstanden, und auch die unitarische Bewegung kam über Polen nach Siebenbürgen. Hier war vieles im Fluss, immerhin sind die meisten Sachsen in Klausenburg zusammen mit dem Stadtpfarrer Franz Hertel (Davidis) unitarisch geworden – und bis ins 18. Jahrhundert geblieben. Alle großen Umwälzungen mündeten abschließend um das Jahr 1660 in eindeutig voneinander abgegrenzte, geschlossene Konfessionsgemeinschaften.

Die von Johannes Honterus mit angestoßene Bewegung wurde nicht in Windeseile umgesetzt. Es hat doch einige Jahrzehnte gedauert, bis man sich zu dem durchgerungen hat, was heute als die evangelische Kirche der Siebenbürger Sachsen bekannt ist. Außerdem sind zahlreiche Details der reformatorischen Kirchengeschichte in Archiven von Staat und Konfessionsgemeinden steckengeblieben und erst nach 1990 gründlich erforscht worden. Bis dahin war der Zugang zu alten Bibliotheken und Forschungsarbeit in Rumänien nur eingeschränkt möglich. Im Blick auf die Unitarier muss man von einer grundlegend veränderten Ausgangslage sprechen. Also: Die Kulisse hat sich in den vergangenen dreißig Jahren geöffnet. Jetzt besteht die Chance, Forschung direkt vor Ort zu betreiben.

Wie viel Veränderung im Selbstverständnis der Siebenbürger Sachsen ist seither bemerkbar?
Das „Kollektiv“ hat sich doch intern schon so ausdifferenziert, dass eine pauschale Betrachtung nicht weiterhilft. Es hat sich sehr viel verändert – sowohl hier als auch im Westen, nicht zuletzt durch die Zugehörigkeit zur EU. Vielvölker-Geschichte und Differenzsensibilität für Minderheiten sind für die EU wichtige Maßstäbe, zu denen der Erfahrungsschatz Mittelosteuropas und damit auch der Siebenbürger Sachsen als Brückenbauer eine unentbehrliche Dimension für die gegenwärtig nicht einfache Gesamtintegrationsbemühung darstellt. Mit dieser in den Transformationsprozessen der Gegenwart immer wieder neu zu formulierenden Selbstvergewisserung wandelt sich auch das Selbstverständnis und kreist doch um die geschichtlich gewachsenen, zentralen Pole: gegenseitiger Respekt und friedliche Koexistenz. Mit dieser Kontinuität im Wandel haben die Menschen in Siebenbürgen insgesamt, die Siebenbürger Sachsen im Besonderen eine positive Aufgabe im eigenen Land und in Europa zu erfüllen. Und ich halte dies für zukunftsweisend. Und da ist immer Luft nach oben!

Mir scheint diese Frage wichtig, weil zwei recht unterschiedliche Lebensansätze aufeinandertreffen. Nach wie vor halten einzelne Angehörige einer Generation, die von der Altersstruktur her die Lebensmitte schon deutlich überschritten haben, klar an einer Weltanschauung fest, deren Beibehaltung in zwanzig, spätestens dreißig Jahren jedes gesellschaftliche Fortbestehen deutlich erschweren wird. Pa-rallel dazu versuchen junge Menschen schon heute, sich eine Welt zu bauen, ohne die man in absehbarer Zeit gleichsam nicht mehr wird leben können. Und es ist nicht einfach, sich hier in Siebenbürgen in die Wogen dieses latent gegnerischen Spieles von „mit“ und „ohne“ zu werfen…
Generationenkonflikte und Differenzen im Blick auf die Szenarien der Zukunft sind allgemein und überall zu beobachten. Einen ähnlichen Ansatz hat die Gesamttagung ja auch versucht. Die Jubiläumstagung „Grenzen überschreiten. 500 Jahre Reformation in Siebenbürgen. 70 Jahre Protestantisch-Theologisches Institut“ in der EAS Neppendorf hat einerseits den Rückblick – durch die Zeitgenossen – geübt und deren Wahrnehmung respektiert und gewürdigt. Andererseits hatte die Auseinandersetzung mit der Reformationsgeschichte ein völlig anderes Konzept. Die wirklich hochkarätigen internationalen Gäste sollten mit ihren Fragestellungen die ihnen zum Teil bislang nur oberflächlich bekannten Facetten siebenbürgischer Kirchengeschichte einer neuen Analyse unterziehen und damit neue Forschungsergebnisse erarbeiten und präsentieren. Aus der zum Teil auch kontroversen Diskussion vor Ort werden die Beteiligten die Erkenntnisse nun in die internationale Diskussion einspeisen und vor allem in weitere Forschungen und in die akademische Lehre einfließen lassen. Spätestens in fünf bis zehn Jahren wird man das merken, wenn dann junge Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler hier in den Archiven und Bibliotheken (oder auch in den Online-Datenbanken) recherchieren und damit Siebenbürgen deutlich mehr als heute zu einer – ihrem faktischen Wert entsprechenden – international beachteten Forschungsregion machen werden. Das Gespräch muss eben über die Generationen hinweg in einer souveränen Weise und mit Weitblick gesucht und geführt werden, daran führt kein Weg vorbei. Aber die Perspektive von außen und auch der Aufbau einer selbstbewussten, ernsthaften Kooperation mit loyalen Partnern gehören dazu, um frei zu bleiben von Verkrustungen, aber auch unkritischer Anpassung an den Zeitgeist.

Auf der Tagung konnte dies beobachtet werden. Es herrschte erfreulicherweise durchweg eine sehr konstruktive, positive Stimmung. Das war wünschenswert, ist aber nicht selbstverständlich. Nicht zuletzt deswegen hat die Direktorin des Instituts für Europäische Geschichte, Prof. Dr. Irene Dingel (Mainz), die Tagung als „vollen Erfolg“ bezeichnet, was mich sehr freut. Es war, wie Prof. Csepregi sagte, seit 30 Jahren die am besten besetzte und ertragreichste Tagung zur Reformationsgeschichte in Ungarn und Siebenbürgen.
Das ist wichtig und ich denke, es ist gelungen, dass die aktuell führenden Forscher und Forscherin-nen und über sie die ihnen nachfolgende Forschergeneration auf den Wert der transsylvanischen Fundgrube aufmerksam geworden sind und sich künftig intensiver ihr zuwenden werden. Nach meiner Ansicht sind die Chancen hierfür exzellent.