Siebzig Jahre Theatergeschichte

Vom Auftrag des DSTT anfangs, früher und heute mit Intendant Lucian Vărșăndan

Lucian Vărșăndan arbeitet seit 1999 am DSTT, zuerst in der Dramaturgie, später als Intendant. Foto: DSTT

Am morgigen 23. November sollte das Deutsche Staatstheater Temeswar sein 70-jähriges Bestehen mit der Wiederaufnahme des Stücks „Niederungen“ nach der gleichnamigen Erzählung der Nobelpreisträgerin Herta Müller feiern. Aus finanziellen Gründen mussten die Feierlichkeiten, nicht aber die geplanten Aufführungen (Niederungen am 23. und 24. November, „Das Theater“ am 25. und die szenische Lesung „Sidy Thal – a Schtikl“), aufgeschoben werden. Das Deutsche Staatstheater Temeswar gehört seit 70 Jahren zum Leben der deutschen Gemeinschaft im Banat und ist Teil des Temeswarer Kulturlebens und darüber hinaus bekannt. Grund genung für Benjamin Neurohr, um mit dem Intendanten Lucian Manuel Vărșăndan über den Werdegang des Theaters und die Herausforderungen heute zu sprechen. 

Wie überraschend oder wie selbstverständlich ist eigentlich eine Gründung eines Minderheitentheaters in den 50er Jahren im kommunistischen Rumänien? 
Die Gründung des Theaters vor 70 Jahren zunächst als deutsche Abteilung des rumänischen Staatstheaters war Ausdruck einer ideologischen Überlegung der damaligen Machthaber. Dieses Theater musste diesem ideologischen Zweck entsprechend dienen. Das Theater hat es gemacht, wenn man sich die Pflichtstücke anschaut, die es im Laufe der Zeit produzieren musste. Und es dürfte die Überlegung der Kommunisten gewesen sein, dass es viel effizienter ist, wenn man die jeweiligen mitwohnenden Nationalitäten gleich in den jeweiligen Muttersprachen mit Inhalten versorgt und sie so zum sozialistischen Menschen in den jeweiligen Muttersprachen umerzieht. Es gab aber auch die Nischen, der sich auch dieses Theater bedient hat, in dem es ganz bewusst Sprach- und Kulturförderung für die deutsche Gemeinschaft betrieben hat, an die man sich nicht nur gerichtet hat, sondern der man äußerst verbunden war.

Inwiefern hat das deutsche Staatstheater es geschafft, auch andere Akzente zu setzen, sich manchmal diesem staatspolitischen Auftrag zu entziehen?

Es gab die sogenannten Repertoire-Quoten, ein gewisser Prozentsatz der Stücke musste die zeitgenössische Dramatik des Vaterlandes als Grundlage haben, ein anderer aus dem Repertoire sozialistischer Brüderländer etc. Und da hat es manchmal Versuche gegeben, die auch gelungen waren, dass man den Sinn und Zweck der einen oder anderen Pflichtposition dadurch umgeht, dass man die Vorgabe rein mathematisch erfüllt hat.  Man hat dann Märchendramatisierungen in Auftrag gegeben bei in Rumänien lebenden deutschen Autoren und allein dadurch war die Vorgabe erfüllt. Und eine Neuadaption von Schneewittchen oder Rotkäppchen war ein Werk der zeitgenössischen Dramatik.

Die staatliche Anerkennung des Theaters war auch politischer Natur. Das Theater hat ebenso funktioniert wie alle Kultureinrichtungen dieses Landes, also auch mit einer Parteiorganisation, auch mit einem Büro der Werktätigen. Das Theater wurde mit einem Verdienstorden der Sozialistischen Republik Rumänien ausgezeichnet. Es gab eine Botschaft des Genossen Nicolae Ceau{escu an die Belegschaft dieses Theaters, der Neue Weg berichtet darüber, ebenso das Parteiorgan Scânteia.  Es ist heikel, aus heutiger Sicht darüber zu urteilen und zu sagen, es war etwas nur schwarz oder nur weiß. Ich denke, es gab viele Grautöne und unter dem Strich bleibt allerdings, dass dieser Sprach- und Identitätsfaktor für die Minderheit lebens- und überlebenswichtig war. Man hat selbst die Pflichtstücke dankend angenommen. 

Die Wende selbst war ja für die rumänische Gesellschaft ein großer Umbruch und auch ein starker Einschnitt für die deutsche Gemeinschaft im Banat, durch die massive Aussiedlung der Deutschen von hier. Wie hat sich der Auftrag in der ersten Hälfte der 90er gewandelt?

Die 90er Jahre insgesamt waren geprägt von einer Kunst und von einem Kampf, in dem es nur noch ums Überleben ging. Ich habe das Theater als Lenau-Schüler, damals im Lyzeum, danach als Germanistikstudent erlebt. Der Eindruck war, dass sich das Theater in seiner Orientierung nicht unbedingt geändert hatte. Man hat weiterproduziert wie bis dahin, jetzt ohne Pflichtstücke und ohne aufgezwungene Repertoire-Positionen. Das wurde mir dann später auch in meinen jungen Dramaturgiejahren hier am Haus bestätigt durch Ildikó Jarczek-Zamfirescu. Ich hatte das so empfunden, dass das Theater, an welches ich gekommen war, sich vorgenommen hatte, auch wenn es so nicht ausgesprochen wurde, so bis zum Letzten zu spielen: „Also wir sind da, solange es noch die Minderheit gibt und wir haben die Minderheit zu versorgen, kraft unseres Auftrages“. Das Theater hat aber, das muss man ihm lassen, wichtige Weichen gestellt, die bis in die heutige Zeit hineinreichen. Ich denke da an die Gründung der deutschen Schauspielklassen 1992. Die Krise merkt man daran, dass man weniger gespielt hat. Der Erfolg eines Stückes lässt sich auch daran messen, wie oft ein Stück nach der Premiere nachgespielt wird. Und da sind die Aufführungszahlen jener Zeit ausschlaggebend für eine Krise und für einen Prozess der Selbstfindung. Es gab den Austausch mit Baden-Baden, mit dem dortigen Theater, der dortige Intendant Frieder Lorenz war hier einige Male zu Gast. Ildikó und Remus Zamfirescu haben in Baden-Baden gearbeitet. Es gab auch einen Gastspielaustausch zwischen den Häusern. Dann gab es die Europäischen Tage in Karlsruhe mit „Zwei Schwestern“. Es hat sich eine Menge getan in den Neunzigerjahren. Es war ein Kampf ums Überleben.

Wenn man sich die Gegenwart ansieht, scheint es, dass das Theater die Kurve gekriegt hat, dass die Theatersäle voll sind, dass das Theater anerkannt ist. Vom ehemaligen Auftrag, hauptsächlich für die deutsche Gemeinschaft im Banat zu spielen, hat sich das Theater dann auch irgendwie losgelöst und hat es geschafft, eine eigene Dynamik zu entwickeln. Wie würden Sie die heutige Aufgabe des DSTT formulieren? 

Der Auftrag des Theaters besteht darin, zeitgemäßes und qualitatives Theater in deutscher Sprache zu produzieren und zu zeigen. Das Theater richtet sich an die deutsche Minderheit, richtet sich ebenso an weitere deutschsprachige Zielgruppen, gerade jetzt in einem Jahr, in dem Temeswar viel mehr Touristen hatte als davor. Und nicht zuletzt ist ein Teil unseres Publikums, zirka 30 Prozent, des Deutschen nicht mächtig. Für dieses Publikum bieten wir Simultanübersetzung, meistens über Übertitel, ins Rumänische und ins Englische. In der Repertoirepolitik setzt man gegebenenfalls und gelegentlich auch andere Akzente als ein deutsches Theater sonstwo auf der Welt. Es steht auch in unserer Geschäftsordnung, die vom Träger genehmigt worden ist, dass das Theater verpflichtet ist, für den Kulturdialog zu sorgen und auch die Werte der deutschen, rumänischen und internationalen Kultur zu fördern. Ich denke zum Beispiel an Themen, die sich auch mit der Geschichte dieser Gemeinschaft auseinandersetzen, anhand von Inszenierungen auch unterschiedlicher Ästhetiken, so „Niederungen“ von Hertha Müller in der Inszenierung von Niki Wolcz und mit der Bühne Helmut Stürmers, eine Inszenierung, die wieder aufgenommen wird nach elf Jahren, mit teilweiser Neubesetzung, aber auch an „Menschen zu verkaufen“, ein Dokumentartheaterstück mit filmischen Mitteln über den Freikauf vieler Rumäniendeutscher. Indirekt sprechen diese Inszenierungen auch über den Umgang mit Diktatur, über die zynische Herangehensweise des kommunistischen Systems und seiner Vertreter. Und das sind Themen, die leider Gottes von höchster Aktualität sind, wenn man sich das Tagesgeschehen anschaut.

Welche sind für das Deutsche Staatstheater die Gefahren, die Herausforderungen, die eventuell in den nächsten Jahren auflauern können? 

Das Allerwichtigste, und das betrifft nicht nur das Theater, sondern auch unterschiedliche Einrichtungen, die in deutscher Sprache ihre Tätigkeit entfalten, ist der Erhalt der Sprache. Wir haben jetzt ein Ensemble bestehend aus 26 festangestellten Schauspielerinnen und Schauspielern, die alle eine Schauspielausbildung haben und alle deutschsprachig sind. Also man kann nicht von einer Gefahr reden. Aber man merkt schon, wie schwer es für einen solchen Betrieb mit insgesamt ca. 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in allen Abteilungen, wie viel zusätzliche Kraft es erfordert und auch zusätzliche Energie, gegebenenfalls auch einen finanziellen Mehraufwand, damit man von diesem Gebot nicht ablässt: „Wir spielen in deutscher Sprache“. Oft muss man mehrsprachlich verfahren: Das Stück wird ins Deutsche übersetzt und der rumänische Regisseur arbeitet mit dem rumänischen Text und das ganze Vertragswerk wird für die nur rumänisch- oder englischsprachigen Abteilungen des Theaters erst einmal komplett übersetzt und selbstverständlich sind solche Verhandlungen dann langwierig. Das ist aufwendig und ich denke, für alle Institutionen, die dieser Minderheit und dieser Rolle verpflichtet sind, ist das von immenser Wichtigkeit und das wird die Herausforderung sein in den kommenden Jahren, dass man alles daran setzt, was denkbar und möglich und machbar ist, damit man die Säle füllt bei deutschsprachigen Theateraufführungen, selbst wenn es klar Mühe kostet, dass man den Büchner auch ins Englische neu übersetzen lässt, damit die vielleicht zehn nicht-deutschen und nicht-rumänischsprachigen Touristen, die in die Vorstellung kommen, auch auf ihre Kosten kommen.

Man holt Sprecherzieher und man holt Gäste oder man arbeitet auch mit Spielleitern aus dem deutschsprachigen Ausland etc. Das alles kann aber nicht den eigenen Umgang mit der Sprache als Mutter- oder Zweitsprache ersetzen.

Gibt es auch Vorteile oder Opportunitäten, die man wahrnehmen kann als Minderheitentheater oder als Theater in einer Minderheitensprache, sei es auch eine Weltsprache?
Ausschlaggebend ist der zuletzt genannte Begriff. Die Chance dieses Theaters ebenso wie die Chance der deutschen Schulen und teilweise der deutschen Medien etc. ist jene, dass man in einer Sprache tätig ist, die für viele andere Menschen attraktiv ist. Das ist auch der große Vorteil. Wer auf Deutsch spielt, hat einen viel leichteren Zugriff, nicht nur auf die deutschsprachige Dramatik, sondern auch auf die vielen verfügbaren Titel von Stücken, die ins Deutsche übersetzt werden, also auf fremdsprachige, zeitgenössische, wertvolle Dramatik.
 
Dann gibt es die leichtere Zusammenarbeit mit Fachkräften aus dem Ausland. Da hinken wir noch diesem Wunsch etwas nach. Das ist auch ein Problem vieler rumänischer Häuser, dass man viel zu wenig international vernetzt ist, auf regulärer Basis. Die Tatsache, dass der deutsche Sprachraum aus heutiger Sicht auch geografisch in eine Nähe gerückt ist, welche die Kooperationen viel leichter ermöglicht, als es noch vor 20 Jahren der Fall gewesen wäre. Und die Tatsache, dass man in der Lage ist, zwei Theatertraditionen miteinander zu verbinden, die auch Unterschiede aufweisen, und dass man auf Theaterästhetiken zurückgreifen kann, die hierzulande nicht unbedingt etwas Gewöhnliches sind, dass man dann diese Art von Input betreiben kann, das ist ein Vorteil.Das muss auch eine Chance sein für dieses Theater, jetzt und in der Zukunft. 

Wir danken für das Gespräch!

Redaktionelle Bearbeitung: Astrid Weisz. Das Interview ist in voller Länge zum Hören unter funkforum.net abrufbar.