So zerbricht man den Teufelskreis

Das Leben von Andreas Marquardt dokumentiert und verfilmt

Jürgen Lemke (r.) therapiert Andreas Marquardt seit Jahren

Eine Beschäftigung fürs Leben: der Kampfsport

Marion und Andreas Marquardt

Die deutsche Filmbiografie von Rosa von Praunheim wurde in Bukarest im Rahmen der Deutschen Filmtage präsentiert.
Fotos: ZFGX

Ihm könnte man auf der Straße in Berlin begegnen. Vielleicht geht er Hand in Hand mit seiner Frau spazieren, schaut in ihre Augen. Sie in seine. Sie könnten einander zulächeln und die wenige Freizeit genießen, die sie haben. „So viel wie du an einem Tag lachst, hast du früher  in zehn Jahren nicht gelacht“, würde Marion eventuell bemerken. Sie haben, was man ein „normales“ Leben nennen würde. Das, was er früher nie hatte. Das Paar betreibt ein Sportstudio, wo Kindern Kampfsport beigebracht wird. Es ist eine harte Arbeit: fast 300 Kursteilnehmer, sechs Tage pro Woche, 14 Stunden pro Tag, manchmal sogar mehr. In der Sportschule vermittelt er den Kleinen Selbstbewusstsein und setzt sich für Kinder und Jugendliche ein. Leute, die ihn früher kannten, erkennen ihn heute nicht wieder. Andreas Marquardt ist ein Mensch, der sich geändert hat.

Über den neuen und den alten Andy erzählt die deutsche Filmbiografie „Härte“ (2015), die unter der Regie von Rosa von Praunheim auf die große Leinwand gebracht wurde. Dabei geht es unter anderem um Inzest, Gewalt und Prostitution. Im Laufe der Zeit hat Andreas Marquardt verschiedene Rollen übernommen. Er war der Reihe nach Missbrauchopfer und Frauenhasser, Karatechampion, gewalttätiger Macho und Zuhälter und letztendlich Buchautor - zusammen mit seinem Therapeuten Jürgen Lemke. Jetzt betätigt sich Marquardt als Kampfsportlehrer. Ein entschlossener Mann mit strengem Gesichtsausdruck und gerader Haltung, roten Wangen und frisch gebügeltem Hemd. Eigentlich verkörpert der Berliner den idealen Mann, wenigstens für eine Frau: die eigene.

Turbulente Kindheit

Die Geschichte beginnt mit seinem Vater, den er nur flüchtig zu sehen bekam. Von früh an konnte das Kind nachvollziehen, weshalb die Eltern getrennt waren. Eine Episode hat sein Leben besonders beeinflusst:  als ihm die Hand von seinem Vater zerquetscht wurde. „Der Arzt bastelt monatelang an meiner Hand herum, denn die Knochen waren völlig ineinander verdreht und verschoben. In Abständen von zwei Wochen musste er den Gips öffnen, die Hand röntgen, die Knochen korrigieren und mit einer Schraube passgerecht machen. Bis alles wieder einigermaßen ordentlich zusammengewachsen war, verging ein halbes Jahr.“ So beschreibt Andreas Marquardt in seinem Buch die Wirkungen eines der wenigen Treffen mit seinem Vater. Die Einzelheiten der sexuellen Misshandlung durch seine Mutter werden ganz akribisch in den letzten Kapiteln dargestellt. Darüber konnte Marquardt mehr als die Hälfte seines Lebens nicht sprechen. Schreiben schien daher eine gute Idee.

Eine Zuflucht hat der kleine Andreas aber schnell gesucht und pausenlos praktiziert: den Kampfsport. Ununterbrochen hat Andreas Marquardt seine Willenskraft trainiert: Als Kind ist er auf Fäusten 27 Stockwerke eines Hochhauses hinuntergegangen. Jetzt kann er in weniger als fünf Sekunden fünf Baseballschläger zertrümmern.
An der Seite des Kampfsportlers in einem Bukarester Hotel sitzt Jürgen Lemke, der scheint eher sein Freund, und nicht sein Therapeut zu sein: „Sein Unterbewusstsein hat nach diesem harten Kampf gesucht, um irgendeinen Ausgleich zu finden. Ich denke, der Sport hatte von Anfang an etwas Therapeutisches für ihn, um das alles auszuhalten.“  Auch in Marquardts Disziplin sieht Lemke etwas Zwanghaftes: „Das hält ihn zusammen, diese Disziplin hat ihn überleben lassen.“ Dadurch hat der Kampfsportler vieles erreicht: „Ich bin 1974 bis 1984 ungeschlagen auf der Welt – Weltmeister, Europameister, Asien-Champion. Es waren für mich Glücksmomente“, erklärt Marquardt.

„Der gute Andy hat sich erst im Laufe der Zeit entfalten können – zu der Persönlichkeit, die er heute ist. Stimmt es?“ Die sanfte Stimme Lemkes wartet auf eine Bestätigung. Warum brauchte der „gute Andy“ so viel Zeit, um zum Vorschein zu kommen? Durch die Mutter wurde Marquardt jahrelang sexuell missbraucht. Therapeut Jürgen Lemke spricht vom Alleinsein des Jungen: „Dass seine Mutter ihn misshandelt, kann er mit niemand besprechen. Das ist im Allgemeinen das Problem von Missbrauchsopfern, dass sie sehr allein sind. Die Scham ist auch so groß, dass man nichts sagen kann“, fügt Lemke hinzu. Möglichst schnell ist der Jugendliche von zu Hause weggezogen.
Als junger Mann prostituierte Andy viele Frauen und war aggressiv zu ihnen. Er war der Zuhälter, sie waren verliebt. So wie Marion. Lemke interpretiert die Tatsache, dass Marquardt Frauen zu Prostitution gezwungen hat, als Rache an der Mutter: Diesmal waren es die Frauen, die zu Opfern wurden.

Der Wunsch, sich zu befreien

Irgendwann musste Marquardt ins Gefängnis. „Wenn ich nicht im Knast gewesen wäre, wäre ich vielleicht schon tot“, denkt er  manchmal. Acht Jahre lang hinter den Gittern. Das wollte er nie mehr erleben. Er wollte sich ändern und hat für sich eine Therapie erzwungen: „Ich habe immer gesagt, ich will eine Therapie. Entweder kriege ich die Therapie oder ich schlag euch alle zusammen“, erinnert sich Marquardt an seine Worte von damals. Er wusste, dass er Hilfe brauchte, um seine Aggressivität in den Griff zu bekommen. Die Therapie hat für Marquardt 1998 begonnen. Dabei hat er viel über sein Handeln geredet. Der ganze Prozess hat dazu geführt, dass er begriff, was er den Frauen angetan hatte - und was ihm in der Kindheit angetan wurde, erklärt Lemke mit sanfter Stimme.

Dabei hat Marion, die heutige Ehefrau von Marquardt, eine wesentliche Rolle gespielt. Wenn Andreas Marquardt von ihr spricht, benutzt er Wörter wie Liebe, Respekt, Freude. Seine Liebe für „die kleine Frau“ hat sich im Gefängnis entwickelt, Marion hat ihn ständig unterstützt und besucht. Marqardt erzählt von einer Episode während eines solchen Besuchs: Als er und Marion zu reden anfangen wollten, kam ein Angestellter ohne anzuklopfen rein, schmiss die Tür zu und die Kleidungsstücke, die sie gebracht hatte, herunter. „Normalerweise hätte ich zugeschlagen und er wäre nie mehr aufgestanden“, erinnert sich Marquardt. „Das ist die Agressivität, die in ihm drin gewesen ist“, fügt Lemke hinzu. „Anstatt in ein Gesicht zu schlagen, habe ich in die Wand geschlagen. Die Wand ist abgebröckelt. Da waren Löcher drin. Ich habe nur Marions Stime gehört: ‚Andreas nicht, Andreas nicht!‘ Wenn Marion nicht da gewesen wäre, dann wäre da Böses passiert“, schlussfolgert Marquardt.

Gefühle hat Marquardt lange nicht zugelassen. Er hatte Angst, dass sich Marion abwendet. Dass sie vielleicht den harten Andy doch besser findet als den weichen Andy. „Soll ich ihr Gefühle zeigen, darf ich sie ihr jetzt zeigen? Oder lieber erst später? Es war immer ein Schritt vor, ein Schritt zurück“, erinnert sich Marquardt. „Das, was Marion geleistet hat – das schafft kein Mann, nur eine Frau“, meint Lemke. Schon mit 17 sagt sie, dass sie sich Marquardt ausgesucht hatte und er der richtige Mann für sie sei. Natürlich bleibt die Frage, wie konnte sie so einen Mann wollen, einen Mann, der sie schlägt?

Der Heilungsprozess

Mit Hilfe der Therapie hat der Kampfsportler langsam den Weg zum „guten Andy“ gefunden. „Ganz langsam, Schritt für Schritt. Es hat Jahre gedauert“, betont er. Mindestens sechs bis acht Jahre. Therapiert wird Marquardt immer noch. Gute Therapien leiten einen Erkenntnisprozess ein, dieser ist nicht in einem Jahr zu schaffen - es sind längere Zeiträume erforderlich, meint Lemke. Auch Lemke hat aus der Therapie etwas gelernt – wie wichtig es ist, dass Menschen eine Chance bekommen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. „Allein ist es kaum möglich“, sagt er und vergleicht die Lage mit einem Hamster im Laufrad.

Das Buch, der Film und die anschließenden Gespräche, die mit einem neugierigen Publikum geführt werden, sind auch Teil der Therapie. Marquardt hat den Film 16 mal gesehen und immer wieder entdeckt er etwas Neues: was er den Frauen angetan hat, oder wie er sich ihnen gegenüber benahm. Immer wieder tut es ihm weh. „Es tut mir wahnsinnig leid, aber ich kann nichts mehr gut machen“, sagt er.

Auf der anderen Seite denkt Marquardt an das Publikum: „Ein Buch lesen viele Menschen, einen Film sehen auch viele, vielleicht kann es anderen helfen. Ein Verbrecher wird nicht geboren, er wird gemacht.“ Man muss ein gutes Zuhause haben, meint Marquardt. Therapeut Lemke unterstützt seine Aussagen: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei einer gewaltvollen Kindheit ein gewalttätiger Mensch entwickelt, ist größer, als wenn die Verhältnisse normal sind.

Heute fühlt sich Andreas Marquardt gut. Er arbeitet mit Kindern und Jugendlichen, holt Kinder weg von der Straße, macht Wohltätigkeitsveranstaltungen und versucht, Kindern eine Perspektive zu geben. Andreas Marquart ist ein Mann, der Jahrzehnte lang geschwiegen hat. Jetzt erzählt er, was passiert ist – im Buch, im Film, in Gesprächen. Was dem kleinen Andreas passiert ist, soll nie wieder geschehen. Für seine Stärke und seinen Willen ist er ein Modell für viele Menschen, die in den Teufelskreis der Gewalt verstrickt sind. Und er zeigt der ganzen Welt, dass man sich befreien kann.