Steinwerfer

Wort zum Sonntag

Schon zu Moses Zeiten war es bei den Israeliten eine beliebte Methode, Gesetzesbrecher, auch wenn sie es nur dem Anschein nach waren, zu Tode zu steinigen. Diesen Steinigungsstod musste auch Stefanus, der erste Märtyrer der christlichen Kirche, erleiden. Obwohl sein Gesicht selbst seinen Feinden wie das Antlitz eines Engels erschien, steinigten sie ihn zu Tode. Es gab damals ja noch keine Gewehrkugeln und auch keinen elektrischen Stuhl.

Auch Christus musste sich mit fanatischen Steinwerfern auseinandersetzen. Sie schleppten eine Frau vor Ihn, die man beim Ehebruch überrascht hatte. Nun maßten sie sich das Richter – und das Henkeramt an. Keiner von ihnen nahm sich die Mühe, nach der Ursache zu forschen, wodurch diese Frau zum Ehebruch verleitet worden war. Vielleicht hatte sie einen groben, rücksichtslosen oder trunksüchtigen Ehemann, der ihr Frausein täglich mit Füßen trat und ihr enttäuschtes, liebeshungriges Herz in die Arme eines anderen Mannes trieb. Um sie zu retten, musste Christus, der alle Herzen durchschaute, die Steinwerfer mit der Nase auf ihre eigenen Missetaten stoßen und ihnen zum Bewusstsein bringen, dass sie selbst schon den Steinigungstod verdient hatten. „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie“, war sein Urteil. Da verschwand ein Steinwerfer nach dem andern. Christus blieb mit der Frau allein zurück.

Die Gattung der Steinwerfer hat ein zähes Leben und ist bis heute noch nicht ausgestorben. Viele dieser Art haben sogar das christliche Taufkleid angezogen, doch das Steinwerfen wollen sie nicht lassen. Freilich reißen sie nicht die Steine aus dem Straßenpflaster heraus, um nach anderen zu werfen. In unserer „humanen Zeit“ wendet man andere Methoden an. Nicht die Hand schleudert die Steine, diese Arbeit verrichtet die Zunge. Der mit der Hand geschleuderte Stein trifft ja nur die äußeren Körperteile, aber die mit der Zunge geworfenen Steine treffen mitten ins Herz. Der auf diese Weise hervorgerufene Schmerz ist viel größer und dauert auch länger. Es sind dies die Steine der üblen Nachrede, der Verleumdung und des lieblosen Urteils. Täglich erleben wir in den Sendungen von Radio und Fernsehen solche Steinwerfereien. Keinem Welt- und Landesbürger steht das Recht zu, solche Steine der Tücke zu werfen. Wie oft treffen sie die unrechte Stelle.

Bevor wir andere Menschen mit Steinen verdammender Urteile bewerfen, prüfen wir doch vorher, ob es notwendig ist und wir überhaupt dazu berechtigt sind. Es könnten ungerecht geworfene Steine sein. – Zu einer Familie kam regelmäßig der Gasmann, um den Zähler abzulesen. Er blickte stets finster drein, tat seine Arbeit schweigsam, war hager, ging gebückt und hatte ungeschlachte, rissige Hände. Der Vater meinte: „Der Mann sieht wie ein Dieb aus“. Die Tochter sagte: „Passt auf, ob er den Zähler richtig abliest.“ Die Mutter urteilte: „Der Mann ist äußerst unsympathisch“. – Ende Januar, als der Ostwind kalt blies, feierte der Sohn seinen Geburtstag.

Gerade, als die Familie am vollen Tisch saß, kam der finstere Gasmann. Der gutgelaunte Junge lud ihn zu einer Tasse Kaffee ein. Nun merkte die Mutter, dass der Mann vor Kälte zitterte und schob ihm eine volle Tasse zu. Man sah, wie wohl ihm der warme Kaffee tat. Im Gespräch erfuhren sie sein Schicksal. Er hatte eine gelähmte Frau, einen Sohn in der Heilanstalt, zwei kleine Kinder, von denen eines krank war. Der Mann stimmte keine Klagen an, er berichtete nur über seine Lebensumstände. Nun erkannten sie, dass der ihnen so unsympathisch scheinende Mann ein stiller Held war. Wer ein solch schweres Los zu tragen hat, kann nicht immer ein fröhliches Gesicht zeigen. Das Urteil der Familie änderte sich radikal. Sie besuchten die kranke Frau und halfen, die Not zu lindern. Es kam sogar zu einer dauernden Freundschaft zwischen beiden Familien.

Wären uns die Schicksale so mancher uns unsympathischer Menschen bekannt, würden wir, statt mit Steinen, mit Brot auf sie werfen. Es ist besser, mit einem Steinchen im Schuh nach Maria-Radna zu wallfahren, als mit steinharten Urteilen andere zu bewerfen. Dazu ein Dichterwort: „Nur keinen Stein! Als reuevoll, mit flehender Gebärde das Weib da kniete vor dem Herrn der Welt – und als der Herr sie all betrachtend fragte: Wer wirft zuerst? Wer war es, der es wagte? – Nur keinen Stein!“