Texte zwischen zwei Welten

Eindrücke eines Erstlingsteilnehmers von den 33. Reschitzer Literaturtagen / „Deutsch schreiben ist spezieller“

Katharina Eismann, aus Temeswar stammende, in Offenbach lebende Lyrikerin, Autorin und Übersetzerin, die auch auf Kleinkunstbühnen auftritt

Einige der Teilnehmer der 33. Ausgabe der Deutschen Literaturtage in Reschitza bei der Begegnung mit Katharina Eismann im Fabrikstädter „Stefania“-Palais, inmitten der Installation, die sie zusammen mit Sven Eismann, Tischler und Installationskünstler, und mit Hagen Bonifer (textgebundene Installationen) gestaltet hat. Fotos: der Verfasser

Es war der 8. Oktober 2009 – der Tag, an dem schlaglichtartig der Fokus vieler auf eine bis dahin eher unbekannte Literaturszene gelenkt wurde. Zur Erinnerung: Am 8. Oktober 2009 wurde die Vergabe des Literatur-Nobelpreises an Herta Müller bekanntgegeben. Müller? Ein typisch deutscher Name, dachten viele. Und immerhin lebte die preisgekrönte Autorin damals wie heute in Berlin. Nur: Je näher die Preisverleihung rückte, desto intensiver beschäftigten sich viele mit der Biografie der Preisträgerin. Und die stammt …aus dem Westen Rumäniens, zählt zu den ‚Banater Schwaben‘, zur rumäniendeutschen Minderheit. Und plötzlich wurde klar: Gerade im Westen Rumäniens hatte sich eine sehr lebendige deutschsprachige Literaturszene entwickelt, trotz aller Repressionen durch die kommunistische Ceau{escu-Diktatur. Und diese Szene hat sich bis heute irgendwie erhalten, obwohl viele der rumäniendeutschen Autoren längst, wie Herta Müller, in Deutschland leben. Einmal im Jahr treffen sie sich (wieder) im Westen Rumäniens, im Rahmen der „Deutschen Literaturtage in Reschitza“, einer alten Industriestadt, in diesem Jahr aber zusätzlich auch in Temeswar, der europäischen Kulturhautstadt 2023. Und genau dort hatte der Autor die Gelegenheit wahrgenommen, den rumäniendeutschen Literaten über die Schulter zu schauen.

In der Temeswarer „Fabrikstadt“, einem etwas abseits gelegenen Viertel in einer der drei diesjährigen Kulturhauptstädte Europas, sehen die Gebäude längst nicht so schick aus wie im Zentrum mit seinen sorgsam sanierten Fassaden: Staubige Luft, der Putz bröckelt von den Wänden. Ganz anders im Inneren des morbid anmutendenen „Palais Stefania“. Dort präsentiert die Autorin Katharina Eismann (Schriftstellerin, Veranstaltungsorganisatorin, Schöpferin von Installationen und Ähnlichem) ihr jüngstes Kunstprojekt: Bearbeitete hölzerne Eisenbahnschwellen, hintereinander aufgebaut wie Tische, die zum Hinsetzen und Dialog einladen. Auf jeder Schwelle liegt ein Zettel mit einem kurzen Text – zum Beispiel: „Der Nibelungensage entflohen, säumt sie im barocken Mantel Kettenrücken, antiquierte Feste, Hinterhofkanonen.“ Oder: „Klarinetten verbleichen unter Kettenbrücken, in Budapest Schnürlregen.“ 

„Das Ganze ist ein Tisch auf Bahngleisen, der gedeckt ist mit einer lyrischen Reise vom Mainbogen bis zur Donaumündung. Die Lyrik entsteht auf den Reisen. Und ich hab‘ meine alte Heimat besucht“, so die Künstlerin. Hier die alte Heimat, nämlich das Banat oder Westrumänien, dort die neue Heimat, Deutschland, wo die Schwellen eines Stellwerks bearbeitet wurden. Dazwi-schen: Pendeln zwischen diesen zwei Welten, das Schreiben darüber. Wie ein roter Faden zieht sich diese Konstellation durch die Texte vieler rumäniendeutscher Autorinnen und Autoren, auch durch die Arbeiten von Katharina Eismann, aufgewachsen in Temeswar und später in die Nähe von Frankfurt übersiedelt. Sie alle sind zu den 33. Deutschen Literaturtagen von Reschitza gekommen, unter anderem auch, um Erinnerungen auszutauschen – an die vielen Zusammenkünfte und gemeinsamen Lesungen in den 70er und 80er Jahren, aber auch an die Bespitzelung durch die kommunistische Geheimpolizei Securitate. Katharina Eismann war gerade mal 13 Jahre alt, als sie von ihren Eltern zu einer spektakulären Aktion aufgefordert wurde: Dem berüchtigten Diktator Nicolae Ceau{escu bei einem Besuch persönlich einen Briefumschlag mit einem Ausreiseantrag in die Hand drücken. „Und dann habe ich die Kolonne durchbrochen und habe einfach den Brief hingehalten. Und dann sah‘ ich das eingefallene Männchen, den Ceau{escu.“
Ein Bodyguard, erinnert sich Eismann, hat seinerzeit den Brief entgegengenommen. Mit der Ausreise nach Deutschland hat es erst zwei Jahre später geklappt, nachzulesen in Katharina Eismanns Roman „Das Paprikaraumschiff.“

„Oft spielt der Tod mit dem Leben. Er ist ein Herumtreiber, ein Flaneur. Manche halten ihn für einen Blender. Aber er ist ein Meister. Sein Gedächtnis ist fabelhaft…“ Horst Samson liest aus einem seiner jüngeren Prosatexte, die durchaus etwas mit der Biografie des Autors zu tun haben: Denn Samson, in den 1970er und 1980er Jahren einst Journalist und Schriftsteller im Banat, aber auch mit besten Beziehungen nach Siebenbürgen, hatte es damals gemeinsam mit weiteren Autorenkollegen gewagt, persönlich bei den lokalen Vertretern der kommunistischen Machthaber gegen die Einschränkung der schriftstellerischen Entfaltungsmöglichkeiten vorzusprechen. Ergebnis: Samson und seine Mitstreiter wurden beschimpft, bedroht, bespitzelt. „Die Wunde, die ist geblieben bis heute, wenn ich durch die Stadt gehe, dann erinnere ich mich an all diese Geschichten. Wir sind gerade heute am Kreisparteikomitee vorbeigefahren, wo wir die Auseinandersetzungen geführt haben, und wo sie uns hinausgeworfen haben und mit 15 Jahren Gefängnis bedroht haben.“
Was auch für Samson der Grund war, Rumänien endgültig zu verlassen – Richtung Deutschland, wie viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter auch. Die Erfahrungen beim Pendeln zwischen den zwei Welten spiegelt sich dann auch immer wieder in den Texten der rumäniendeutschen Autoren wider – etwa bei Samson: „Vergnügung/ Der rumänische Grenzer schaut mich schief an/ Der ungarische Grenzer schaut mich schief an/ Der österreichische Grenzer schaut mich schief an/. Der deutsche Grenzer schaut mich schief an/ Was für eine Schieflage!“

Auch der heute in Ludwigsburg lebende Autor und Verleger (Pop-Verlag) Traian Pop Traian thematisiert das Pendeln über die Grenzen, das Leben erst im Osten, dann im Westen. Der heute 70-Jährige ist erst nach der rumänischen Revolution, von deren Ausgang er bitter enttäuscht war, nach Ludwigsburg in Deutschland ausgereist. Dort gründete er später einen Verlag, in dem zahlreiche Autoren mit rumäniendeutschem (aber auch mit rumänischem) Hintergrund veröffentlichen.

Allerdings: „Es ist leider immer noch eine Nische.“ Die aber, glaubt Traian Pop Traian, sei ausbaufähig. Denn auch das rumänische Publikum ohne Deutschkenntnisse sei zunehmend interessiert an den Texten der rumäniendeutschen Autoren. „Deswegen habe ich angefangen, die Autoren ins Rumänische zu übersetzen oder übersetzen zu lassen.“
Und da war dann ja noch die Sache mit dem Nobelpreis für Hertha Müller. Damit rückte plötzlich der Fokus so stark wie nie zuvor auf die gesamte Bandbreite rumäniendeutscher Literatur: „Das war kein Strohfeuer. Sie hat ja auf ihre Herkunft hingewiesen, diese nie verleugnet, ebenso wenig wie ihre schmerzlichen Erfahrungen, die Traumata, die sie sprachgewaltig (und auch viel aus ihren Rumänischkenntnissen schöpfend) literarisch effektvoll verarbeitet.“ So der rumäniendeutsche Journalist und Autor Werner Kremm. 
Hertha Müllers Werk „Atemschaukel“ thematisiert ein Stück verdrängter Geschichte: Es geht um die Deportation von über 70.000 Rumäniendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion: „Sowohl die Kinder als auch die Enkel der Verschleppten hat sie mit ihrem Buch angesprochen. Und Anthologien beweisen, dass sehr viele dieser Kinder, erst nachdem sie die ‚Atemschaukel’ gelesen haben, ihre Eltern befragt haben: Wie war das denn damals? Diese Tatsache ist sehr gut dokumentiert in der Sammlung von Erzählungen der Kinder von Banater Russlandverschleppten, die jüngst deutsch und rumänisch veröffentlicht wurde“, so Kremm.

„Ein kleines bisschen blauer Himmel ist schon ein ganzes Paradies. Wenn blau und grün und Sterne nicht so friedlich ineinanderfließen…“ (Henrike Brudiceanu-Persem): Alte Autoren treffen junge Autoren: Die Teilnehmer der Literaturtage sind zu Gast bei „Stafette“, dem einzigen in Rumänien existierenden Kreis junger Auto-rinnen und Autoren, die Gedichte und Prosa auf Deutsch schreiben – und der in Temeswar verortet ist. Allerdings: „Die junge Generation ist nicht mehr geprägt vom Kommunismus. Das ist ein Begriff, der ihnen nur über die Erzählungen der Großeltern was sagt“ – so die Temeswarer Autorin Henrike Brudiceanu-Persem, Mitte 20, die den „Stafette“-Literaturkreis leitet. Dass rumäniendeutsche Literatur nicht ausstirbt, hat damit zu tun, das junge Autorinnen und Autoren mit Vorliebe auf Deutsch dichten – nach Ansicht von Henrike Brudiceanu-Persem ein Ergebnis der Förderung der deutschen Sprache in Rumänien: „Es gibt Schulwettbewerbe, es gibt die Olympiaden für Deutsch, wo eben Kreativität gefragt ist. Und wenn sie dann sehen, dass sie in deutscher Sprache auch schöne Ergebnisse und schöne Geschichten schreiben können, dann ist es doch besonders, in Deutsch zu schreiben – es ist spezieller!“