„...und es wird so, wie es war“?

Der bittere Nachgeschmack einer versäumten Krise

Streikende in Bukarest | Foto: Agerpres

Präsident Johannis posiert mit den Schülern seiner Gattin zum Anlass des Besuchs von Bundespräsident Steinmeier. | Foto: Aurelia Brecht

Seit nun fast drei Jahren ist eines der wichtigen und immer wiederkehrenden Themen in den rumänischen On- und Offline-Nachrichten das rumänische Bildungswesen. Der Akzent wechselte zwischen der Plagiatsproblematik zum Gebildetes-Rumänien-Projekt des amtierenden Präsidenten Klaus Johannis, zum Thema des Religionsunterrichts, zum Bildungsgesetz und nun zum Lehrerstreik. Über den Lehrerstreik zu schreiben oder eine Meinung zu äußern ist kein leichtes Unterfangen, da man leicht zwischen die Fronten gerät und mit Sicherheit dem einen oder anderen auf die Zehen tritt. 
    
Es geht um mehr als nur die Löhne

Seit dem 22. Mai 2023 befand sich der größte Teil der rumänischen Arbeitnehmer im Bereich der schulischen Bildung für etwas mehr als drei Wochen im Streik. Wie immer haben sich die sich gegenüberstehenden Parteien in von Stacheldraht geschützte Positionen verschanzt. Im Niemandsland blieben die Schüler, für deren Interesse und Zukunft scheinbar alle kämpften. 

Dass den Lehrern und den sonstigen Angestellten, die im Schulwesen tätig sind, eine angemessene Vergütung zusteht, ist eine Selbstverständlichkeit. Genauso kann dieser Gruppe nicht verwehrt werden, sich für die eigenen Rechte mit allen zur Verfügung stehenden demokratischen Mitteln einzusetzen. Dazu gehört eben auch das Streiken. Dieses wurde ihnen auch von keiner Seite abgestritten. Trotzdem wurde der Zeitpunkt, der für den Generalstreik gewählt wurde, in Frage gestellt. Hier muss man aber für beide Seiten Verständnis aufbringen:

Einerseits standen die Schüler der Abschlussjahre (8. und 12. Klasse) vor einem unglaublichen Problem: Am 12. Juni 2023 sollten die Bakkalaureat-Prüfungen und am 19. Juni 2023 die Abschlussprüfung für die Absolventen der achten Klasse beginnen. Während des Streiks konnte niemand sagen, wann und wie diese Prüfungen stattfinden würden. Dadurch drohte eine gesamte Lawine ins Rollen zu kommen, denn auf die beiden Prüfungen sollten die Einschreibungen ins Lyzeum oder zum Studium folgen, die nun auch unter Fragezeichen standen. 

Aus Sicht der Streikenden konnte eigentlich kein anderer Zeitpunkt in Frage kommen. Wenn man sich die Ergebnisse der in diesem Jahr stattgefundenen Streiks ansieht,  wurde so gut wie kein Erfolg verbucht. Streiks, die nicht zu einem druckerzeugenden Kontext führten, wurden von der Politik eher ignoriert. Da muss man auch vor den Gewerkschaften den Hut ziehen und zugeben: einen besseren Zeitpunkt hätte man nicht wählen können. Zugleich muss man den Lehrern zu Gute halten, dass seit dem letzten Generalstreik im Bildungswesen 18 Jahre vergangen sind. Mit anderen Worten, die Kinder, die während des letzten Lehrerstreiks geboren wurden, sind die heutigen Absolventen. Ob dieses ein Zeichen der Geduld oder der Resignation der Lehrerschaft darstellt, lässt sich schwer sagen. 

Die allgemein verbreitete Meinung in Rumänien ist, dass im Lehramt nur noch die Idealisten oder die Unfähigen landen, die es auf dem freien Wirtschaftsmarkt nicht schaffen. Als Begründung wird die niedrige Vergütung ins Feld geführt.

Während man im groß- und mittelstädtischen Raum sagen kann, dass der Unterrichtsprozess sich zwischen passabel und gut bewegt, ist die Lage im ländlichen Raum meist eher mit den Folgen eines Orkans zu vergleichen. In vielen Fällen können die Posten nicht mit entsprechenden Fachkräften besetzt werden, so dass man auf Aushilfskräfte zurückgreifen muss, die nicht selten mehrere Fächer unterrichten müssen, für die sie gar nicht ausgebildet sind. In den glücklichen Fällen haben diese Aushilfskräfte ein Minimum an pädagogischer Begabung und geben am Katheder den Schülern nicht nur papageienmäßig die Inhalte der Lehrbücher wieder, die sie teilweise selber nicht verstehen.  

Durch eine zeitgemäße Anpassung der Vergütung, so die Streikenden, könnte man sicherstellen, dass der Lehrerberuf auch für gut- und hochqualifizierte Absolventen erneut reizvoll werden wird, was zu einer Steigerung der Qualität des Unterrichtsprozesses führen soll. Dass Lohnerhöhungen das Allheilmittel sind, wage ich zu bezweifeln. Als Beispiel dafür kann das Gesundheitswesen angeführt werden. Die Lohnerhöhungen und -anpassungen, die in Folge der Streiks von 2017 und 2018 im Gesundheitswesen erkämpft wurden, haben weder zur Lösung des Personalmangels, noch zu einer allgemeinen Verbesserung der medizinischen Dienstleistungen beigetragen. Wo dieses punktuell der Fall war ist, geschah es eher durch Investitionen in Infrastruktur und Ausstattung. 

Dass sich die Förderung für die sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die laut Gesetz dem Bildungswesen jährlich zustehen, die aber noch keine einzige Regierung, unabhängig von der politischen Farbe, im Jahresbudget so vorgesehen hat, sich an letzter Stelle der von den Streikenden gestellten Ansprüchen befand, ist nicht nur problematisch, sondern zeugt leider auch von Mangel an Weitsicht oder widerspiegelt das fehlende Interesse an grundlegenden systemischen Änderungen. 

Anrechnen muss man aber der streikenden Lehrerschaft, dass ihr Durchhaltevermögen Hand in Hand mit dem Verzicht auf das monatliche Einkommen ging. Für die Streiktage erhalten die am Streik Beteiligten keinen Lohn und die Gewerkschaften verfügen über keinen „Streikfonds“, der diese Verluste auffangen könnte, obwohl man das doch erwarten würde. Von der nicht ganz einfachen Problematik des rumänischen Gewerkschaftswesens sei aber an dieser Stelle abgesehen.   

Andrerseits kann man der gleichen Lehrerschaft vorwerfen, dass sie es im Vorfeld des Streiks versäumt hat, den eigenen Schülern zu erklären, was auf dem Spiel stand und was ein Streik als Ausdruck einer gelebten Demokratie bedeuten kann. Vielleicht hätten sie dann von dieser Seite mehr an Rückendeckung gewinnen können. Doch die leicht überhebliche Haltung hat dazu geführt, dass die Schüler diese unerwarteten dreiwöchigen Ferien einfach nur genossen haben.   

Ex cathedra aus dem Elfenbeinturm

Nach der Covid-Pandemie, die fast nahtlos in die Energiekrise überging, im Zuge des Kriegs in der Ukraine mit seinen wirtschaftlichen Folgen, der durch die Regierung verursachten Verspätungen in der Abrufung der Gelder, die Rumänien durch den Europäischen Wiederaufbau- und Resilienzplan zur Verfügung stehen und im Hinblick auf das bevorstehende Wahljahr waren soziale Unruhen eigentlich zu erwarten. Doch in ihrer abgehobenen Arroganz hat es die rumänische politische Klasse erneut geschafft, die Zeichen der Zeit zu ignorieren. In ihrem Elfenbeinturm, der sich von der Piața Constituției über die Piața Victoriei bis zum Cotroceni-Palast erstreckt, wog sich die Regierungskoalition in der Gewissheit, dass Polenta nicht oder zumindest sehr schwer explodiert. Als das besagte Nationalgericht im Kessel der Straße zu blubbern begann, griff man zum ersten Kanister, der zur Hand war, um das Feuer unter dem Kessel zu löschen. Der Griff ging aber daneben und man schüttete Benzin in die Flammen.

Ex-Premier Nicolae Ciucă, Bildungsministerin Ligia Deca und beiden voran Präsident Klaus Johannis wetteiferten im Ignorieren der sich ihnen darstellenden Wirklichkeit. Mit eigenwilligen Maßnahmen versuchten sie, dem Streik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Stellt man die wiederholt zurückgewiesenen Angebote der Regierung den Forderungen der Lehrer gegenüber, muss man feststellen, dass versucht wurde, den Streikenden alles zu versprechen, was sie nicht beansprucht hatten. 

Sinnbildlich dafür steht eine Episode während des Staatsbesuches des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. In der Kirchenburg in Großau/Cristian singt eine Schülergruppe vor den beiden Staatsoberhäuptern den aus der kommunistischen Zeit stammenden Schlager „O lume minunată“ (Eine wunderbare Welt). Jenseits der Tatsache, dass die Episode an den Festivismus kommunistischer Zeiten erinnert, anscheinend ist dieser noch tief im rumänischen Bewusstsein verankert, ist die ungewollte Ironie kaum zu übersehen. Während sich landesweit die Lehrer auf der Straße für ihre Forderungen einsetzten, stand Klaus Johannis breit lächelnd zwischen Schülern, die von einer Welt voller Sonne, Spielsachen, Kindern und  erfüllten Träumen sangen. 

Ein anderes Bild bot Rumäniens Präsident eine Woche später. Am 1. Juni 2023, dem internationalen Tag der Kinder, sprach der Hermannstädter Physiklehrer ex cathedra zu seinen Lehramtskollegen über sein Gebildetes-Rumänien-Projekt (eines der großen Misserfolge seiner beiden Mandate), über die Tatsache, dass die Streikenden prinzipiell Recht hätten, dass er, die Regierung und die Regierungskoalition allen Ansprüchen gerecht geworden seien, um am Ende zu fragen: „Wie kann es sich nur jemand erlauben, die nationalen Prüfungen zu gefährden?“  Die Kluft zwischen der politischen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Rumänien kann kaum klarer dargestellt werden.  

Danach wurden unterschiedlichste Druckmittel eingesetzt, um dem Streik ein Ende zu setzen. So informierten am Donnerstag, den 8. Juni die Gewerkschaften ihre Mitglieder, dass die Regierung den einmal bezogenen Standpunkt nicht verlassen würde und weitere als die schon zugestandenen Lohnerhöhungen nicht genehmigen würde, sowie, dass diejenigen, die den Streik bis spätestens Montag den 12. Juli aufgeben, auch für die Zeit des Streiks vergütet würden; dass der Kollektivarbeitsvertrag unterzeichnet werden müsse und ab der Unterzeichnung der Streik als illegal gilt; dass  am 16. Juli die Ferien beginnen und man daher nicht mehr streiken könne und dass an einer Prozedur gearbeitet werde, welche das Abschließen der Durchschnittsnoten vereinfachen soll. 

Die Lehrerschaft blieb standfest. Unter dem Motto #îndrăznesc (ich wage es) kam es am Freitag den 9. Juni, landesweit zu Manifestationen. Die Lehrerkolonne auf der Basarab-Brücke in Bukarest wurden zum Symbolbild der Protestbewegung. Und die Regierung gab nach.  

Eine weitere verpasste Krise?

Am Montag, den 12. Juni, wurde der Lehrerstreik offiziell aufgehoben. Mittels Dringlichkeitserlass sicherte die Regierung die Erfüllung des größten Teils der Forderungen der Lehrerschaft zu. Zeitgleich wurde beschlossen, dass die mündlichen Prüfungen zum Abitur entfallen und mit den Durchschnittsnoten aus dem Lyzeum ersetzt werden. Der geplante Prüfungskalender kann nun eingehalten werden und die Ferien sollen wie geplant beginnen. Zwar betonen die Gewerkschaftsleiter, dass der Streik nur aufgehoben und nicht beendet wurde, da in dem Falle, dass die Maßnahmen des Dringlichkeitserlasses nicht bis zum 1. Januar 2024 in Kraft treten, der Streik weitergeführt wird, doch dürfte man darunter nicht mehr als nur Kommunikationsstrategie verstehen.

Die Frage ist, was bleibt jenseits der durchgesetzten Lohnerhöhung, die von vielen Seiten als eine Anerkennung der Würde der Lehrerschaft gepriesen wird. Man darf nur hoffen, dass es sich nicht wie in einem der Lieder von Herbert Grönemeyer verhalten wird. Da heißt es: „Geh voran, bleibt alles anders und es wird so, wie es war“. 

Da niemand mehr von einem angemessenen Budget für die Bildung (den schon erwähnten sechs Prozent des BIP) spricht, darf man wei-terhin von systemischen Änderungen nur träumen. Man träumt, jenseits der Solidarität mit der Lehrerschaft, von einem Schulwesen, das endlich den Weg aus dem 19. Jahrhundert findet und die Fähigkeit hat, mit dem Puls der Zeit Schritt zu halten. Man träumt von Lehrern, die aus ihrer Rolle als Opfer des Systems, der Eltern und der Schüler herauswachsen und versuchen, das System von innen zu verändern. Man träumt von Politikern, die – anders als Herr Johannis – einem Streik auch andere positive Aspekte als nur das Fotografieren mit den Schülern der eigenen Gattin am Großen Ring abgewinnen können. Man träumt, dass man irgendwann den bitteren Nachgeschmack derartiger Ereignisse nicht mehr spüren wird. Man träumt davon, dass sich Rumänien den bekannten Spruch Winston Churchills: „Wir sollten die Chance einer Krise nicht versäumen“ zu eigen machen wird.