Unsamftes Aufwachen im Westen

Lektionen aus dem Ukraine-Konflikt, Bedrohungen, Perspektiven

„Elemente zur Sicherheitsstrategie Rumäniens im Kontext des Konflikts in der Ukraine“: Der Titel der Konferenzen der NGO „Ține de Noi“ und der Hanns Seidel Stiftung versprechen eine ehrgeizige Agenda - die Skizzierung einiger Aktionen für 2024, politisch, militärisch, diplomatisch, wirtschaftlich - die am Ende in eine aktualisierte nationale Sicherheitsstrategie münden sollen. Die Rede ist von einem Reset der Beziehungen mit dem früheren sowjetischen Raum, einer Stärkung der Ostflanke der NATO, von im Ukraine-Krieg gelernten Lektionen, die auch Rumänien dringend umsetzen muss vor dem Kontext einer neuen Sicherheitslage; ein Aufwachen aus dem Koma...

Drei Experten teilen ihre Erfahrungen und stellen ihre Lageeinschätzung vor, moderiert von Răzvan Orașanu: Generalmajor a.D. Paul Hurmuz, Ex-Diplomat Sergiu Celac und General Iulian Chifu, ehemaliger Sicherheitsberater des Präsidenten und des Premierministers, Vorsitzender des Zentrums zur Konfliktvermeidung und Frühwarnung (Centrul de Prevenire a Conflictelor și Avertizare Timpurie). Beleuchtet wird die Möglichkeit eines russischen Angriffs auf ein NATO-Land, die Gefahr eines „langfristigen Krieges mit hoher Instensität“, auf den man sich gemeinsam innerhalb von fünf bis sieben Jahren vorbereiten müsse, aber auch die Worst Case Situation, in der dissipative Kräfte dazu zwingen könnten, sich auf eigene Ressouren zu verlassen.

Neun Lektionen aus dem Ukraine-Krieg

Die Lektionen des Westens aus dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wurden eingangs zusammengefasst. Erste Lektion: Die Strategie zur Verhinderung eines militärischen Konflikts durch Erhöhung des kommerziellen Austausches Ost-West hat versagt. Russland konnte nicht in das europäische Sicherheitssystem integriert werden. Zweitens: Die bisherige militärpolitische Strategie ist gescheitert, wurde als Schwäche interpretiert, hat Russland provoziert, seine militärischen Aktionsfelder zu stärken. Drittens: Mehr als je zuvor zählt im Krieg die Hard Power: Panzer, Raketen, Luftabwehr. Viertens: Es konnte nicht genug Munition für die Ukraine aufgetrieben werden, nicht einmal aus den gesamten Reserven des Rammstein-Formats (über 50 Länder). Die Produktionssteigerung für Artilleriegeschosse dauert zu lange. Fünftens: Die Embargos gegen Russland, vor allem für energetische und Dual-Use-Güter, wurden großteils umgangen. Sechstens: Europa muss lernen, dass jede Änderung der politischen Strömung aus Washington enorme Rückwirkungen hat (Blockade der Ukraine-Hilfe im Kongress, Trump als möglicher US-Präsident). Siebtens: Die Bereitschaft Russlands, enorme Verluste an militärischen und humanen Ressourcen hinzunehmen, darf nicht unterschätzt werden. Achtens: Das Schwarze Meer, stark militarisiert von Russland, muss von der NATO aktiv geschützt werden, sonst wird die Ostflanke der NATO nicht zu halten sein. Die neunte und wichtigste Lektion: die Geschwindigkeit der Innovation und die Unmöglichkeit, einen Vorteil auf dem Schlachtfeld länger als zwei-drei Wochen zu halten, bis der Feind sich anpasst. Die der Ukraine vom Westen angebotene „Standardausbildung nach aktueller militärischer Doktrin“ hat auf dem Schlachtfeld nicht effizient funktioniert! Ziel der Konferenz vom 19. Dezember war, einige strategische Richtungen zu skizzieren. Die besten Ideen sollen in einem Bericht zusammengefasst und auf den politischen Verhandlungstisch gebracht werden – für eine dringend nötige Rekonstruktion des nationalen Verteidigungsplans.

Die Lage der Ukraine

Hurmuz bezeichnete die Kapazität der Ukraine, sich auf dem Schlachtfeld anzupassen, als sehr hoch. Mit dem Schlag gegen das Schlachtschiff „Moskwa“, „fast ohne westliche Hilfe“, habe sich die Dynamik am Schwarzen Meer verändert. (Anm. Red: Kurz nach der Konferenz gelang der Ukraine auch ein Schlag mit Marschflugkörpern gegen das große Landungsschiff „Nowotscherkassk“ auf der Krim). Doch auch der Feind passt sich an: Erst verwendeten nur die Ukrainer Drohnen kleiner Dimension, heute beide Seiten „am laufenden Band“. Erst nutzten die Ukrainer intelligente Projektile, die Panzer aufgrund ihrer Laserbeleuchtung visierten, „jetzt machen das die Russen auch“. Vier bis sechs Wochen brauchten die Russen im Schnitt, um sich neuen westlichen Technologien anzupassen. Die Ukrainer seien schneller und innovativer, doch die industrielle Kapazität, diese Dinge im Westen zu produzieren, begrenzt. Am wichtigsten seien auf dem aktiven Schlachtfeld: Innovationskapazität und Führungsqualität bis in unteren Hierarchien. Konkrete Erfolge der Ukraine führt Chifu vor Augen: Die Ukraine kontrolliert derzeit ihren Luftraum. Die Russen haben gelernt, dass sie auch abgeschossen werden können. Die Ukraine kontrolliert den Norden und Nordwesten des Schwarzen Meeres, weswegen über fünf Millionen Tonnen Getreide exportiert werden konnten. Die Ukraine hat die Kommandozentrale der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim schwer getroffen, die Luftabwehr zerstört und die Schifffahrt durch Bombardierung aller Reparaturhäfen lahmgelegt. Die gesamte Flotte, schwer getroffen, musste nach Noworossisk verlagert werden. Zweimal wurde die Kertsch-Brücke getroffen, essenziell für den Versorgungsweg auf die Krim. Dieser läuft jetzt nur auf dem Seeweg. Die Ukraine hat den Krieg nach Russland gebracht: ihre Drohnen haben den Kreml getroffen und pro-ukrainische Partisanen einen Tunnel zwischen Russland und China gesprengt, über den militärische Transporte liefen. Periodisch werden Ziele im Inneren Russlands getroffen, in der Regel militärische Versorgungswege. Dennoch liefe der Krieg für die Ukraine derzeit nicht gut, warnt Chifu. Problematisch seien die Blockaden der Hilfen aus dem Westen und die Lieferengpässe für Munition.

Inventar der Risiken

„Seit dem 24. Februar 2022 leben wir in einer Welt, die viel komplizierter geworden ist“, erklärt Hurmuz. Ganze Technologiezweige sind nach China verlagert worden, etwa die Herstellung von Batterien für Drohnen oder der Abbau von seltenen Erden, den andere Länder aus Klimaschutzgründen ablehnen. Klimaschutz sei ein wesentliches Motiv für die Auslagerung militärischer Industrie aus dem Westen. Der schwierigste Punkt dabei sei, die Bevölkerung zu überzeugen. Wenn man von Verteidigung spricht, müsse man aber auch über Gesetze nachdenken, die EU-Gesetze seien nicht für den Krieg gemacht. Schnell könne man sich vor dem Europäischen Gerichtshof wiederfinden, auch wenn „der Feind vor der Tür steht“. Die wichtigste Verteidigungslinie aber sei das eigene Volk: „Das muss man überzeugen. Doch nicht ein einziges Subjekt kann man heute diskutieren ohne Polarisierung“. Wie kann man die interne Kohäsion aufbauen? „Viele im Westen stellen sich die Frage, ob man wie in der Ukraine die Leute zusammenhalten kann – oder laufen sie auf die Straße und demonstrieren?“ „Vor 30 Jahren hatten wir eine gute Verteidigungsindustrie“, erklärt Hurmuz zu Rumänien, „doch jetzt fehlen essenzielle Elemente“. Wie stark allein der Munitionsverbrauch im Krieg ist, illustriert er am Beispiel der US-Bodenstreitkräfte und US-Marineinfanterie, die in den letzten 17 Jahren (!) bis 2022 insgesamt 970.000 Projektile 155-mm-Artilleriemunition erhielten. 2022 hatte die USA eine Million solcher Projektile an die Ukraine geliefert! Trotz NATO-Mitgliedschaft sei auch die Kapazität des eigenen Landes zu bedenken, denn bis Hilfe kommt, vergeht Zeit. „In den ersten beiden Monaten haben die Ukrainer mit dem gekämpft, was sie selbst auf Lager hatten“, sagt Hurmuz. Als gefährlichste Risikofaktoren für den Kriegsfall bezeichnet er eine Wirtschaftskrise oder eine Pandemie, die die Lieferketten zusamenbrechen lässt. Oder, dass der Isolationismus wächst - etwa durch dissipative Kräfte in Europa. „Man darf sich nicht nur auf andere verlassen. Wir müssen die Fähigkeit haben, selbstständig Risiken zu beurteilen: Was machst du im schlimmsten Fall, nur mit den eigenen Ressourcen?“

Die Rolle Rumäniens

Sergiu Celac, Ex-Botschafter in Großbritannien und Außenminister in der Regierung Petre Roman, erklärt: „Die Aggression von Russland hat viele Basiskonzepte geändert.“ Der Russland-Ukraine-Krieg werde nicht eigenständig gesehen, sondern als Episode einer neuen Ordnung. Bisher stand in der NATO die Nord-Süd-Flanke im Vordergrund - nun ist das Schwarze Meer Bühne eines aktiven Kriegs und der Reste von eingefrorenen Konflikten wie Transnistrien, Georgien-Russland, Berg-Karabach... Die Sicherheitslage der Schwarzmeerländer und die Präsenz der NATO hänge entscheidend davon ab, wie der Konflikt zwischen Russland und Ukraine endet. In dieser verwirrten Welt sieht er Rumänien „überraschend gut positioniert“: Ein wichtiger politischer Erfolg für Rumänien seien die am 14. Dezember aufgenommenen EU-Beitrittsverhandlungen mit Moldau und Ukraine, was auch Chifu in seiner Lageeinschätzung explizit herausstreicht. Rumänien gilt als zentrales Element in der Unterstützung des Westens beim Wiederaufbau der Ukraine. Und: Rumänien hat sich durch eine beispiellose Unterstützung von Ukraine und Moldau in Sachen Energieabhängigkeit ausgezeichnet, ergänzt Orașanu: In der Angriffsnacht des 24. Februar 2022 habe Rumänien beiden Ländern geholfen, sich vom russischen Energienetz abund an das europäische anzukoppeln - „in einer einzigen Nacht, ohne Tests“. Die Maßnahme war vorbereitet, ein Test hätte im März stattfinden sollen. Als dann im September die russischen Attacken auf die ukrainische Energieinfrastruktur begannen, sei es Rumänien gelungen, 80% des Energiebedarfs der Ukraine ins Netz einzuspeisen. Auch in den Empfehlungen des Atlantic Council, einer Denkfabrik in Washington D.C., kommt Rumänien für eine Sicherheitsstrategie am Schwarzen Meer besondere Bedeutung zu: Konstanza solle NATO-Hauptbasis im Schwarzmeerraum werden, die Hafenkapazitäten sowie die navalen Kräfte von Rumänien, Bulgarien und Ukraine ausgebaut, die Verteidigungsfähigkeit Rumäniens und Bulgariens mithilfe der NATO gestärkt. Mit ausländischen Investitionen solle der Export von Energie aus dem Schwarzen Meer (z.B. Neptun Deep) gefördert werden. Die Unterstützung des Schengen- Beitritts von Rumänien und Bulgarien wird empfohlen; die Aufnahme der Moldau, Ukraine und Georgien in OECD, EU, NATO und Drei- Meeres-Initiative; die Bildung eines Blocks der Schwarzmeerstaaten sowie der Einsatz wirtschaftlicher Mittel, um die russischen Truppen aus Transnistrien und Georgien zu entfernen, inklusive durch die Perspektive einer Mitgliedschaft in NATO, EU, OECD und Drei-Meeres- Initiative. Als „überraschend“ bezeichnete Chifu das gesteigerte Interesse einiger Länder am Schwarzmeerraum: Im US-Kongress werde die Schwarzmeerstrategie der USA alle sechs Monate diskutiert, „da konnten wir auch ein Set von Ideen einbringen“. Deutschland habe sich vorgenommen, die Kräftebeziehungen zwischen NATO, Russland und Türkei besser zu verstehen, selbst Frankreich habe eine Schwarzmeerstrategie.

Hiobsbotschaften

Am 17. März 2024 finden in Russland Wahlen statt – eine Formsache für Putin, sagt Chifu. Danach sei mit einer Vollmobilisierung und der totalen Transformation Russlands in eine Kriegswirtschaft zu rechnen! Die Fehler Russlands: Mit dem Krieg habe das Land in nur zwei Jahren leichtfertig Beziehungen mit Deutschland und Israel über den Haufen geworfen, in die es zuvor Dutzende von Jahren gezielt investiert hat. Auch den Pakt mit der eigenen Gesellschaft habe Putin gebrochen, der da ungefähr lautete: Mischt euch nicht in die Spielregeln der Macht ein und ihr werdet Frieden und ein gewisses Maß an Wohlstand haben. „Dieser soziale Vertrag ist bereits mit der Teilmobilisierung in die Luft geflogen.“ Der Krieg ist längst an der Haustür jedes Russen angelangt: Mobilisierung oder Flucht, Sanktionen, Inflation, Zinserhöhung der russischen Zentralbank. Für Europa kündigt Chifu für 2024 „drei schlechte Nachrichten“ an. Erstens: Die Ergebnisse der Wahlen in der EU und den USA könnten für EU oder NATO kritisch werden, wenn antidemokratische Kräfte zunehmen. Hinzu kommen Wahlen in Rumänien, die Präsidentschaftswahlen der Moldau, „auch wenn Maia Sandu große Unterstützung genießt, bis September kann viel passieren...“. Wahlen müssten auch in der Ukraine stattfinden, werden aber wegen des Krieges nicht durchführbar sein; dann bliebe Selenskyj Präsident „mit reduzierter Legitimität“... Zweitens: Der Krieg läuft für die Ukraine derzeit nicht gut! Ungarn subminiert die EU, blockiert Ukraine-Hilfen, stellt sich gegen den EU-Beitritt von Moldau und Ukraine. Die Blockade im US-Kongress legt Ukraine-Hilfen in Milliardenhöhe lahm. Der Westen kann nicht genug Munition liefern. Drittens: Seit dem Summit in Vilnius im Juli 2023 (Treffen von Staats- und Regierungsschefs der NATO-Mitglieder, Partner und EU) wird davon ausgegangen, dass in geschätzt fünf bis sieben Jahren ein großer Krieg drohen könnte. „Bis dahin müssen wir, der Westen, die NATO, überzeugend verteidigungsfähig sein, um Russland davor abzuschrecken, einen NATO-Staat anzugreifen.“ Die Rede sei von einem „langfristigen Krieg mit hoher Intensität“.

Nicht vorbereitet auf großen Krieg

„Doch mit wem führen wir so einen Krieg? – Wir haben keine Armee...“, verweist Chifu. „Wir müssen Munition produzieren. Wir haben keine Produktion der essenziellen Elemente.“ Ganz Europa war 2023 nicht in der Lage, der Ukraine die benötigte Anzahl von einer Million Artilleriegeschosse zu liefern. Im Vergleich dazu würden eine Million Artilleriegeschosse mit jedem einzelnen Transport aus Nordkorea an Russland geliefert. Vergeblich verweist man auf veraltete russische Panzer, man könne sie leicht sprengen. „Aber dazu braucht man Munition!“ Können wir einen Krieg führen, wenn wir keine Produktion haben? „Das verlangt Investitionen, Fabriken, eine Kriegsindustrie. Ein Riesen- Sprung, der in fünf bis sieben Jahren abgeschlossen sein muss!“ Und im Wahljahr 2024 werde niemand wagen, diese Kosten anzusprechen, unkt Chifu. Wie der große Krieg noch verhindert werden könne, wurde er gefragt. „Durch glaubhafte Demonstration, dass wir ihn gewinnen würden!“