Unzureichende Bildungspolitik verschärft Schieflage

Rumänien und seine Elite verlieren den Kontakt zueinander

Psychologe, Universitätsprofessor und Ex-Bildungsminister Dr. Mircea Miclea ist nicht gut auf das staatliche Krisenmanagement Rumäniens im Unterrichtswesen zu sprechen. Foto: Agerpres

Als Victor Hănescu sich 2005 in das Viertelfinale der French Open spielte, einen verblüffenden Sieg über Sandplatz-Spezialist David Nalbandian einfuhr und auf dem großen Court Philippe Chatrier des Stade Roland Garros erst von Meisterschläger Roger Federer besiegt werden konnte, bestätigte das sportlich nicht herausragende Rumänien, dennoch für Überraschungen gut zu sein. Natürlich mangelte es in Rumänien nicht an Stimmen, die sich ereiferten, den unerwartet langen Parcours des hageren Hünen aus Bukarest auf der Pariser Asche als handfesten Beweis für die bahnbrechende Erfolgsstrategie der autochthonen Schule von Sport und Tennis herauszustellen.

Ein Reporter jedoch rückte die Perspektive zurecht: Nein, nie und nimmer sei der Viertelfinaleinzug von Victor Hănescu bei den French Open auf eine angebliche Leistung des Rumänischen Tennisverbands zurückzuführen, so Cristian Tudor Popescu. Fünf Jahre zuvor hatte der selbst zum Racket greifende Journalist und Balljunge des 1972 in der Bukarester„Arena Progresul“ gegen die USA verlorenen Davis-Cup-Finales gar den ein für allemal als Spieler vom Rasen abtretenden Fußballgott Gheorghe Hagi für unfaires Benehmen gegenüber Schiedsrichter und Mitspielern kritisiert.

Gut, dass Rumänien noch Medienakteure von echtem Schrot und Korn hat, die liebend gerne Salz in die Wunden der nationalen Unsportlichkeit streuen. Ob die von Einzelnen oder einem Kollektiv ausgeht, ist für ihn, den Medienkonsumenten unter dem Kürzel CTP kennen, zweitrangig. Hauptsache, beim Fachsimpeln fliegen die Fetzen. Anerkennung aus dem Mund und Bleistift von CTP ist selten. Wer sie trotzdem erhascht, darf sich tatsächlich etwas darauf einbilden.

Rumäniens Spitzen ernten die Früchte ihrer eigenen Arbeit. Eine Feststellung, die im Leistungssport zutrifft und den schwächelnden Geist des allgemeinen Bildungssektors verstehen hilft. Denn überall da, wo kluge Köpfe selbstständig vorgehen, verschläft der Staat die Möglichkeit, einer längst überfälligen Bildungsreform Tür und Tor zu öffnen.

Auch ohne das Glück, zur richtigen Zeit die richtige Schule zu besuchen, machen Spitzenschüler das Beste aus sich selbst. Doch wer individuell nicht zum Musterschüler prädestiniert ist, muss oftmals dem soziokulturellen Stigma der Durchschnittsqualität, das eigentlich gar kein Stigma sein dürfte, Tribut zollen. Aber so war und ist es nun mal in Rumänien: „Pass ja auf, hart zu büffeln, sonst holt dich das Mittelmaß ein, für das Du dich ein Leben lang schämen müsstest – erspare Dir und uns Eltern solche Schmach!“ Folglich kommt unter Spätzündern im besten Erwachsenenalter, die von sich selbst nicht behaupten können, Musterschüler gewesen zu sein, eine Frage auf: Was bräuchte Rumäniens Bildungswesen dringender denn je, um nicht nur seine autonomen Spitzenkräfte, sondern auch benachteiligte Massen in die Erfolgsspur führen zu können?

Sportlich mischt Rumänien nicht mehr ganz oben mit. Das Karriere-Ende von Andrei Pavel und Victor Hănescu brachte den dauerhaften Abstieg der rumänischen Tennis-Herrenriege aus der Weltgruppe des Davis-Cup mit sich. Grand-Slam-Siegerin Simona Halep sorgt in der Weltrangliste des Damen-Einzeltennis für Furore, wird aber vermutlich als Ausnahme in Rumäniens Sportgeschichte eingehen. Längst verraucht sind die Feiernächte und der Torrausch, in den Rumäniens Fußball-Nationalmannschaft Millionen Fans versetzen konnte. Die 55.600 Zuschauer fassende „Arena Na]ională“ in Bukarest ist viel größer als der Sport, auf den sie seit 2011 wartet.

Aufgezehrt scheint auch der Kult um das Nationalteam der Disziplin Damenturnen, das in den ersten zwei Jahrzehnten nach Mauerfall und Revolution bei vielen Auflagen der Olympischen Sommerspiele Gold und Silber absahnte. Nur glich der Preis für das begehrte Edelmetall, den die Teenagerinnen ungefragt zahlen mussten, einem Raubbau an Kindheit und Jugend: überfordernde Trainingseinheiten, totales Verbot von Süßigkeiten, bis auf das letzte Gramm  kalkulierte Mahlzeiten, monatelang vom elterlichen Zuhause abgeriegeltes Wohnen und Schuften im nationalen Leistungszentrum Diemrich/Deva, wo zwar etliche Turnerinnen zu unbesiegbaren Kämpferinnen gestählt, gleichzeitig aber aus der geistigen und körperlichen Reifung in Vorbereitung auf ein langes Erwachsenenleben nach kurzer Sportkarriere herausgerissen wurden. Heute geben Eltern ihre Kinder nicht mehr so bedenkenlos für faktisch quälendes Training frei. Goldmedaillen, die nur durch Verzicht auf Kindheit erstritten werden können, gelten nunmehr als Inflationsware. Und irgendwo ist so ein aus der Zeit gefallener Leistungssport auch für allgemeine Bildungsschwäche symptomatisch.

Rumänien beobachtet, dass ihm die Spitzenkräfte ausgehen, und unternimmt von staatlicher Seite aus zu wenig Neuerungen im Bildungssektor, die das Selbstwertgefühl des Mittelstandes pflegen könnten. Eine Fehlstrategie für ein Land, wo man ausschließlich aus Eigenantrieb in obere Gesellschaftsschichten aufschließen kann, Lesen keine breite Alltagsbeschäftigung ist und manchem von klein auf Angst vor dem Versinken im Mittelstand eingehaucht wird. In 30 Jahren wurde Rumänien vom eigenen Bildungsministerium in die Zwickmühle manövriert. Wer sich aus ihr lösen möchte, schafft es nur mit dem Ziel, Spitzenkraft werden zu wollen. Leider bleibt, wer nicht das Zeug zur Elite hat, auf der Strecke. Ein Sozialstaat-Update muss her, wenn auch soziokulturell benachteiligte Bürger mit sich selbst zufrieden sein können sollen. Das A und O von Fortschritt? Bildung, Bildung und nochmals Bildung – nicht nur in Küche und Wohnzimmer, sondern auch in staatlichen Schulen! Damit Bildung nicht mehr als Bonus verwaltet werden muss, der nicht für alle ausreicht, sondern als tief verankertes Standardgut strukturell ungleiche Chancen zumindest ein wenig ausgleichen und Rumäniens Selbstregeneration Wirklichkeit werden lassen kann.

Psychologe Dr. Mircea Miclea (Jahrgang 1963), Professor an der Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg/Cluj-Napoca (UBB) und Bildungsminister von Januar bis November 2005, warnt davor, vom rekordverdächtig hohen Erfolg der Nationalen Evaluation, der sich Rumäniens Achtklässler des Schuljahres 2019/2020 im Juni gestellt haben, auf krisenfeste Qualität des Bildungsangebotes zu schließen. „Leider wurden, um das Fehlen der Unterrichtsleistung kosmetisch zu überdecken, extrem leichte Prüfungsanforderungen gestellt. Ich unterstreiche, dass wir natürlich all jene, die auch unter schweren Prüfungsanforderungen die selben hohen Noten erzielt haben würden, unseres Respekts versichern. Aber es ist offenkundig, dass die Anforderungen der Nationalen Evaluierungen in diesem Jahr deutlich herabgesetzt wurden, um das Fehlen der didaktischen Leistung in dieser Zeit zu verstecken“, gibt Dr. Miclea in einem Podcast vom 26. Juni für die privat-rechtliche Medienredaktion „Recorder“ zu Protokoll: „Ein halbes Jahr lang hatten wir es mit einem Schatten von Online-Schulbildung zu tun. Mindestens eine Million Kinder besitzen kein eigenes Tablet; wenn wir hinzurechnen, dass viele Familien zwar nur ein Tablet, aber zwei oder drei Kinder haben, steht eine noch viel zahlreichere Bevölkerung zu Buche, die in keinster Weise von dieser Art, Schule zu organisieren, profitiert hat.“

Für Dr. Mircea Miclea, die Redaktion „Recorder“ und Rumänien steht die Gefahr fragiler Gesellschaft und leicht manipulierbarer Individuen am Horizont. „Als ich 14 Jahre alt war, fand ich die Qualität meiner Lehrer beeindruckend. Damals herrschten schwere Zeiten, es waren die letzten Jahre Ceaușescus. Alle standen ab 5 Uhr morgens in der Schlange um Brot und Milch an, aber niemand von ihnen nörgelte in Anwesenheit der Schulklasse. Sie hielten ihre Unterrichtsstunden so gut sie konnten, ohne auch nur ein Wort über das harte Leben oder ihr Nicht-in-der-Gesellschaft-anerkannt-Sein zu verlieren. Von ihnen habe ich die Würde gelernt, die mir noch heute Vorbild ist. Ich und meine Generation, wir hatten damals diese Modelle. Langfristig zählen an erster Stelle nicht beigebrachte Informationen, sondern die Haltung des Lehrers: Enthusiasmus oder Überdruss. Wir sind in einer Ethik der Pflicht aufgewachsen. In der Schule und überall in der Gesellschaft wurde mit Pflichten auf uns eingedroschen: dass wir lernen, arbeiten und uns aufopfern sollen, und sei es auch nur für die Kommunistische Partei! Wir waren eine Kollektion lauter Pflichten. Diese Ethik hat sich stück-weise gewandelt. Heute greift eine Ethik von Rechten und immer weniger Pflichten um sich“, unkt Ex-Bildungsminister Dr. Mircea Miclea.

„Eine gute Schule vermag es, dich aus der Armut herauszuholen“, bemerkt der Psychologe im obig angeführten, auf der Homepage www.recorder.ro abrufbaren Podcast „Eternul eșec al educației românești. Mircea Miclea explică unde greșesc minițtrii, profesorii și părinții“ (Das ewige Versagen der rumänischen Erziehung. Mircea Miclea erklärt, wo Minister, Fachlehrer und Eltern einen Fehler begehen). Im modischen Anspruchsdenken erkennt er bereits die Effekte der heute dominanten Ethik des Betonens von Rechten: „Die meisten Menschen meinen, ihnen stünde alles zu, aber dass sie auch verpflichtet sind, etwas zu geben, das erwägen sie nicht. Dies fällt vor allem Arbeitgebern auf, wenn Absolventen zu ihnen kommen und einen Gehaltssatz fordern, der in keinem Verhältnis zu dem steht, was sie zu bieten in der Lage sind.“ Genauso hallt der Verhandlungston auf dem Arbeitsmarkt der Aktualität in den Ohren einer Generation wider, die in ihrer eigenen Jugend nichts zu melden hatte.

Doch die Schnittmenge von Armut und Bildungsmangel reift nicht erst seit gestern. Die Vertiefung des Gefälles von Stadt zu Dorf ist die Folge, wie sich unschwer an den bei den Tests am schlechtesten abschneidenden Verwaltungskreisen Giurgiu, Teleorman, Boto{ani und Vaslui zeigt. Dr. Mircea Miclea weiß davon Bescheid. Sein Rat, der strategischen Option eines „blended learning“ den Zuschlag zu geben, die das klassische Unterrichten im Schulklassenraum und den Online-Unterricht zum Hybrid kombiniert, spielt der unaufschiebbaren Digitalisierung in die Karten und ist nicht zuletzt auch für die besonderen Bedürfnisse der ruralen Bildungsgesellschaft geeignet. „Die landesweit besten Lehrer sollten ihre Unterrichtsstunden multimedial aufzeichnen. Anfangs nur in der Form, wie sie es im Schulklassenraum gewohnt sind. Aber dann wäre es angezeigt, dieselben Lektionen in zwei zusätzlichen Formen aufzuzeichnen. Eine Form, die Schülern mit Verstehens-Schwierigkeiten gezielt hilft, und eine Form für überaus leistungsstarke Schüler, die mehr Herausforderung brauchen“, so Dr. Mircea Miclea. „Eltern wäre sehr geholfen. Und mittelmäßige Lehrer würden auf einmal ihren eigenen Unterricht zu verbessern versuchen, wo ihnen doch bewusst wäre, dass ihren Schülern täglich die Möglichkeit zur Verfügung steht, Vergleiche mit sehr guten Lehrern der Plattform einer Online-Schule anzustellen.“ Ex-Bildungsminister Dr. Mircea Miclea sieht Schwarz für den Fall, dass eine digitale Bildungsreform ausbleibt.

Was trifft unweigerlich ein, wenn Führungskräfte des staatlichen Bildungssektors sich mit administrativer Selbstbeweihräucherung begnügen und nur so tun, als ob dringende Reformen umgesetzt würden? Die Antwort birgt Schlechtes: Entstehung erwachsener Gesellschaften, die zum Reflektieren von Informationen nicht fähig sind, Fake News leicht zum Opfer fallen, Manipulation nichts entgegenzusetzen haben und sich letztlich in autoritären Staatsformen wiederfinden. Elitär vom stigmatisierten Mittelstand abgeschirmte Musterschüler, die den Umgang mit dem Negativen nicht lernen, werden als hitzeempfindliche „Snowflakes“ (englisch für „Schneeflocke“) den erhofft sturmfesten Sozialstaat von morgen nicht stützen können. Krisenresistente Bildung muss Kompetenzen ausbilden und Falschheit aufdecken.