Verzicht auf Religionsunterricht ist schlecht. Falschdeutung auch

Eine ökumenisch-prophetische Lehrbegegnung in Hermannstadt

Religionspädagoge István Nemes (2. v. l.) empfiehlt, sich über Erfolg im Unterricht auf der Stelle zu freuacen. Fotos: Klaus Philippi

Theologin Gunda Wittich

Anpacken wie Prophet Jona, der das Schlimmste abzuwenden vermochte

„Wie bei Kindern: alles muss ausgeschüttet werden!“ István Nemes aus Großwardein/Oradea, einer römisch-katholischen Hochburg in Rumänien, kennen in Hermannstadt/Sibiu und dem evangelischen Bischofshaus im sächsischen Siebenbürgen vermutlich nur wenige Erwachsene mit Berührung zum Thema Religionsunterricht. Doch der Projekt-Koordinator des pädagogischen Franz-Kett-Vereins in Rumänien wusste schon vor der Begegnung von 21 Lehrerinnen und Lehrern auf Deutsch am ersten Wochenend-Tag des aktuellen Schuljahres, dass die Fortbildungsrunde im protestantischen Palais am Großen Ring/Piața Mare nicht wie ein akademisches Treffen ablaufen sollte. Ihm ist anderes viel wichtiger: Wie man mit Kindern heute eine gute Erwachsenen-Welt für morgen baut. 

Zu den Teilnehmern der Religionsunterricht-Fortbildung in Hermannstadt am Samstag, dem 16. September, zählt natürlich auch Gastgeber Reinhart Guib, Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR). Wie alle anderen weiß auch er nicht genau, was der Tag anstoßen wird. Mit seiner Vermutung aber, dass „zu gewissen Themen“ referiert wird, „die uns auf den Nägeln brennen“, tippt er richtig. 

Sie ist von Gott gegeben, die Welt, und von Menschen gestaltet. Nur dass die fast ausnahmslos religionspädagogisch aktiven Erwachsenen aus Kronstadt/Brașov, Mediasch, Sächsisch-Regen/Reghin, Hermannstadt, Großwardein und Bukarest, die sich auf Einladung der Düsseldorfer Theologin Gunda Wittich und der EKR über ihre Unterrichtstätigkeit und Erfahrungen an Rumäniens Schulen austauschen, mehr als bloß Widrigkeiten im Bildungssektor anführen. Man ist nicht zusammengekommen, um der säkularen Lebenswirklichkeit die Leviten zu lesen. Der Klarheit schaffende Tag hat zwar eine alttestamentarische Motivation, wirbt jedoch nicht für die Abkehr von der ärgerlichen Welt des 21. Jahrhunderts. Prophet Jona und eine interaktive Bodengeschichte, von István Nemes nach methodischem Ansatz des bayerischen Pädagogen Franz Kett (1933-2023) vorgeführt, überzeugen die Teilnehmer, ihr Herz auszuschütten. 

Vorerst allerdings gilt es, eine Runde Stille Post zu spielen, bei der das Motto „Liebe und Leben für dich geschenkt“ 23 Mal weitergeflüstert wird, um gleich Augen und Ohren für die kinderfreundliche Vermittlung der Geschichte von Jona, einem Meer, einem Schiff, einem Walfisch und der Stadt Ninive zu öffnen. Was István Nemes vor den Blicken der ökumenischen Teilnehmerrunde im Stuhlkreis erzählend auf den Boden legt und zu einer landschaftlich inspirierten Bauaktivität erweitert, bei der alle Anwesendenrunde mitmachen dürfen, dauert viel länger als eine schulische Unterrichtsstunde. Und erfordert beträchtliche Mengen Kleinspielzeug wie Perlen, Holzringe, Steinchen, Muscheln, Schnüre, Tücher, Bauwürfel, Kunststoff- und hölzerne Plättchen in einfachen geometrischen Formen, Filz und eine handliche Puppe zur Darstellung von Jona. Ein Prophet vor bunter Welt inklusive einer Dosis Bosheit, die göttliche Missgunst nach sich zu ziehen droht. 

Das ist die Stunde des Propheten. Weil er persönlich aufgefordert wird, den aus dem Ruder gelaufenen Alltag in Ninive wieder ins rechte Lot zu rücken, könnte er sofort loslegen. Aber er ist auch nur Mensch, scheut zunächst seinen Auftrag. Theologin und Schuldienst-Pfarrerin Gunda Wittich aus Rheinland-Pfalz, die den Religionslehrer-Tag inhaltlich geplant hat und Pädagoge István Nemes beim packenden Präsentieren zuhört, steckte heute vor drei Jahren in einer ähnlichen Situation – als Gastlehrerin auf Zeit in Hermannstadt kündigte sie erbost fristlos wenige Wochen nach Schuljahresanfang ihren Unterricht für evangelische Religion auf Deutsch an mehreren Gymnasien. Wegen Schwänzens und Nicht-Gehört-Werden-Wollens seitens der Schülermehrheit.

Zum Religionslehrer-Tag in das Bischofshaus der EKR hat sie eingeladen, um zu bewirken, dass das Gegenteil ihres eigenen Unterricht-Rücktritts im Herbst 2020 Schule macht. In Rumänien lebt Gunda Wittich nicht mehr, doch Interesse an der Qualität deutschsprachigen Religionsunterrichts in dem Land, das dreieinhalb Jahre lang auch ihr Wohnort war, hat sie noch immer. Die regionale Situation ist ihr schon längst kein Geheimnis mehr, die aktuelle Begegnung in Hermannstadt hat sie persönlich erdacht. „Was hindert guten Religionsunterricht?“, möchte Gunda Wittich gerne erörtert wissen. Zig Argumente nennen die Lehrerinnen und Lehrer, je länger die Kritik-Runde dauert. Einstimmig beklagt wird, dass die einzige Wochenstunde Religion meist um 14 oder 19 Uhr ansteht, also als Schlusspunkt zu einenlangen Schultag, wenn die Klasse zu gar nichts mehr Lust hat. Aber auch, dass „Schüler einfach nur da sein, gute Noten und gar nichts Anspruchsvolles wollen“ und Themen, die sich nicht auf Facebook finden, „unpopulär“ finden. Richtig schwierig wird es, wenn Kinder überzeugt atheistischer Eltern im Religionsunterricht aufpassen und zuhause von Geschichten, Gleichnissen und christlichen Gedanken erzählen, für die Mutter und Vater nichts übrig haben. Oder wenn man Religion auf Deutsch nach orthodoxem Lehrplan unterrichtet, was Ieremia Marga am Samuel-von-Brukenthal-Gymnasium Hermannstadt tut, und sich vor versammelter Schulklasse im Spannungsfeld zwischen Kirche und Gesellschaft wiederfindet. 

„Ich bin mit dem staatlichen System zufrieden“, sagt Sarolta Püsök, Dozentin an der Fakultät der Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg (UBB) für Reformierte Theologie und Musik. Um die Schulstruktur wäre es „gut“, um eine von Postmoderne und Postkommunismus gezeichnete Gesellschaft dagegen „nicht so gut“ bestellt. Konsens auch mit den neoprotestantischen Kirchen dafür lasse sich finden. Als einzige verweigerten sich allein die Zeugen Jehovas jeglicher Kooperation. „Mit der Zeit“ hingegen, so Klausenburgerin Angéla Deák, Religionslehrerin am Unitarischen János-Zsigmond-Kolleg, müsse man „Schritt halten“ und könne „nicht nur im Talar erscheinen. Man muss gut ausgebildet sein und ziemlich viel Erfahrung haben“, fügt sie den Anmerkungen von Sarolta Püsök hinzu. „Ich bin nicht unitarisch, unterrichte jedoch an einer unitarischen Schule, wo die meisten Schüler reformiert sind und der Religionsunterricht je nach ihrer Wahl katholisch, reformiert oder unitarisch angeboten wird.“

Martina Zey betreut als Grundschullehrerin in Sächsisch-Regen Adventisten, Pfingstler, Katholiken, Orthodoxe, Reformierte und Evangelische, und kein Kind wäre davor geschützt, „irgendwann gehänselt“ zu werden. „In ein und derselben Klasse wollen einige nur Spaß, während andere lernen wollen.“ Von den unwirtlichsten Konditionen berichtet Ana-Maria Dimitrescu vom Deutschen Goethe-Kolleg Bukarest: „Ich habe den Eindruck, dass das Schiff untergeht und wir als Geiger noch bis zum letzten Moment weiterspielen. Es geht nicht nur bei uns, sondern auch bei anderen unter. Die Kinder grüßen einander nicht mehr; das lernen wir im Religionsunterricht.“

Auf den Punkt bringt es Angelika Beer, Pfarrerin der EKR in Malmkrog/Mălâncrav. An Orten wie Klausenburg und Hermannstadt schließlich würden „ähnliche Fragen wie bei mir an der Grundschule“ verhandelt. „Sämtliche Konfessionen arbeiten an denselben Knackpunkten.“ Als Gunda Wittich auffordert, Beispiele guten Religionsunterrichts zu schildern, erzählt Beer davon, in Malmkrog Äpfel und Honig in die Schule mitgenommen zu haben. „Süß wie der Honig und frisch, gesund und knackig wie der Apfel“ soll das Leben sein – ein Trick, mit dem die  Pfarrerin die Aufmerksamkeit von Kindern und Schülern sehr gut binden konnte.

Einen mutigen Schritt auf die Teenager zugegangen ist Religionslehrerin Franziska Riemer am Honterus-Gymnasium in Kronstadt: die Frage, ob „Jesus ein Influencer“ war oder nicht, hat sie in der Unterrichtsstunde mit einem Plakat des bei Jugendlichen enorm populären Video-Bloggers Selly unterstrichen. Und Kantor Klaus Dieter Untch aus Zeiden/Codlea, der  seit 25 Jahren mit glühendem Draht zu Kindern ehrenamtlich Religion unterrichtet, sieht in diesem Fach „vielleicht eine Alternative zum Optimierungs-Druck.“

Ab welchem Alter religiöse Lebensinhalte in der Schule thematisiert werden sollten? „So früh wie möglich und nicht erst in der 9. bis 11. Klasse!“, empfiehlt Gunda Wittich in der finalen Diskussionsrunde, der István Nemes beisteuert, „meinen Schülern näherkommen“ zu müssen. Warum der Franz-Kett-Projekt-Koordinator in Rumänien zum Fazit gekommen ist, die Reihen noch etwas enger schließen zu wollen, hat er Stunden zuvor durchblicken lassen. Als Religionslehrer stünde man unter dem Druck, nichts mehr an der Schule zu tun zu haben. „Die Schüler können den Unterricht abwählen, ohne ihn durch Wahl von Fächern wie Ethik ersetzen zu müssen.“ Geschichtslehrerin Alexandra Tieanu aus Hermannstadt hat am Religionslehrer-Tag teilgenommen, um „Verschiedenes zu lernen und so die Welt besser zu verstehen.“ Wollen das allgemein auch Schüler?

„Es ist gefährlich, das Religiöse völlig zu isolieren, es außerhalb des aktiven Lebens anzusiedeln“, schrieb einmal die große Philosophin Jeanne Hersch (1910-2000) aus Genf, „und es ist ebenso gefährlich, es ganz in den tatsächlichen Gegebenheiten der empirischen Wirklichkeit aufgehen zu lassen.“ Die Frage nach der Mitte ist nicht nur politisch spannend, und Schule könnte eben so ein Ort sein, wo man sich Rüstzeug auch für ihr Debattieren im Religiösen holt. István Nemes einstweilen glaubt, ein dringenderes Problem prophezeit zu haben – eine Südtiroler Kollegin hätte ihm erzählt, dass Kinder in Norditalien gar nicht mehr wüssten, „was Ostern und Weihnachten bedeuten. Ich denke, wir sind nur einen Schritt dahinter.“ Ob das Schiff hilflos untergeht? Ligia Taloș aus Kronstadt weiß einen Rat ohne jede Androhung von Strafe: „Schwimmenlernen!“