Von der Geschichte reingelegt

Das Erbe der Proklamation von Temeswar

Vom Balkon der Nationaloper Temeswar verlas George Şerban die Proklamation von Temeswar.
Foto: privat

„Ceauşescu ist nicht tot“, meint die Folksängerin Ada Milea pointiert in ihrem gleichnamigen Lied über den gefallenen Diktator Rumäniens und setzt fort: „Die Geschichte hat uns reingelegt.“ Die Hinrichtung Nicolae Ceauşescus am ersten Weihnachtstag 1989 um Punkt 15 Uhr macht heute genauso die Runde auf Videokanälen wie Youtube im Internet wie Ada Mileas Lied über den einst selbst ernannten „Vater der Nation“. Der Schriftstellerin Ana Blandiana läuft auch heute noch ein Schauer über den Rücken, wenn sie an die Bilder zurückdenkt. Es sei ein Ritualmord gewesen, meint Blandiana. Als hätte man fremde Mächte heraufbeschwören wollen, als hätte man einen Pakt mit dem Teufel schließen wollen für die Seele Rumäniens. Denn eine rasche Demokratisierung des Landes schien bereits im Januar 1990 in weite Ferne zu rücken, als die Nationale Rettungsfront (FSN) unter Ion Iliescu eine Machtübernahme plante. Zahlreiche Intellektuelle, darunter auch Ana Blandiana, traten aus der FSN aus, nachdem sie in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr 1989 für deren Rat vorgeschlagen wurden. Die Schriftstellerin hatte schnell gemerkt, dass ihre Meinung kein Gewicht gehabt hatte. „Der spätere Staatspräsident Ion Iliescu hatte seine Anhänger aus den Provinzen im Rat, die ihm den Rücken stärkten“, erklärt sie die Lage. „Unsere Ideen wurden zwar zur Wahl gestellt, es wurde allerdings ständig dagegen gewählt. Wir konnten eigentlich nichts machen.“

Als Nicolae Ceauşescu und seine Frau Elena erschossen wurden, lauteten seine letzten Worte: „Tod den Verrätern, die Geschichte wird uns rächen“. Es mögen die Worte eines Mannes gewesen sein, der den Tod vor Augen sah. Sie warfen allerdings die Frage auf, wer die Verräter waren. Wenn man die Mitglieder der Gesellschaft Timişoara fragt, handelt es sich um einen Großteil der politischen Führungsspitze, die Rumänien seit 1990 regiert hat. Das stand für George Şerban bereits im Winter 1990 fest, nachdem die Bergleute aus dem Schil-Tal erstmals in Bukarest einmarschiert waren und die  Parteizentralen der Oppositionsparteien stürmten. Als Reaktion auf die Ereignisse in der Hauptstadt, verfasste Şerban die Proklamation von Temeswar – ein Dokument bestehend aus 13 Punkten. Darin forderte er eine rasche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit und sagte dem Kommunismus sowie der ehemaligen Nomenklatura den Kampf an. Viele Geschichtswissenschaftler, Journalisten und Politologen sind sich einig: Hätte man die Proklamation im Frühjahr 1990 ernst genommen, hätte sich das Land rascher und gesünder entwickelt.

Doch die 13 Punkte wurden gewollt ignoriert, weil sie den damaligen Spitzen schadete, die sich nach dem Sturz Ceauşescus in hohe Ämter einschleusten. Allen voran der Staatspräsident selbst, Ion Iliescu, der bei Ceauşescu in Ungnade gefallen war und sein Parteiamt verlor. Nicht weniger zwielichtig sind der Medienmogul Dan Voiculescu, der Großunternehmer Ion Nicolae und der Patriarch Teoctist Arăpaşu. „Gleich nach der Wende wollte man uns glauben lassen, dass die Schuld allein bei Ceauşescu lag“, meint der Schriftsteller Romulus Rusan. „Niemand zweifelt daran, dass er verantwortlich für die Misere im Land war und dass er gestürzt werden musste. Aber die anderen Spitzen kamen glimpflich davon.“
Ein Punkt aus der Proklamation von Temeswar wurde über die Jahre ständig aufgegriffen und führte auch zum Streit über ein sogenanntes Lustrationsgesetz. Der achte Punkt forderte, dass die Mitglieder der Nomenklatura kein politisches Amt bekleiden dürfen. Weiterhin sollten durch ein Lustrationsgesetz sämtliche Personen, die ein hohes Amt bekleiden, zum Rücktritt gezwungen werden.

Zwar wurde im Rumänien der Nachwendezeit ein derartiges Gesetz adoptiert, allerdings erst 20 Jahre später. Heute würde die Proklamation eher einen symbolischen Wert besitzen, findet Vasile Docea. Der Politologe ist Mitglied der Gesellschaft Timişoara und versucht, die positive Seite zu sehen: „Zumindest haben wir ein Lustrationsgesetz.“ Inwiefern dieses auch nur symbolisch sei, wäre eine andere Frage. Sicher ist, dass Ada Milea die Situation in Rumänien nach der Wende in ihrem Lied „Ceauşescu n-a murit“ treffend umschreibt. Darin singt sie: „Ceauşescu ist eine Krankheit, Ceauşescu ist eine Schule.“
Jedes Jahr finden in Temeswar diverse Gedenkveranstaltungen, die an die Revolution erinnern, statt. Auch an die Proklamation von Temeswar wird immer wieder erinnert. Noch hätte sie Gültigkeit, meint die Gesellschaft. „Einer der Punkte forderte auch die politische und wirtschaftliche  Dezentralisierung Rumäniens“, verweist Docea auf eine heute noch aktuelle Zielsetzung.

Der Leiter der Revolutionsgedenkstätte, Traian Orban, betont immer wieder, wenn er durch das Museum führt: „Wir sind den Kommunismus los, nicht aber die Kommunisten.“ Er selbst wurde während der Revolution schwer verwundet. Heute setzt er sich für das Andenken an die gefallenen Opfer ein, die ihr Leben für ein freies Rumänien ließen. Auch Ana Blandiana engagiert sich für eine Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit. Sie leitet zusammen mit ihrem Mann die Gedenkstätte Sighet. „Manchmal fühle ich, dass alles umsonst gewesen ist“, gesteht sie ihren Frust. „Hätte man damals die Proklamation angenommen und die Punkte verfolgt, würde Rumänien heute anders ausschauen.“ Aber es ist halt, wie die Folksängerin Ada Milea in ihrem Lied singt: „Die Geschichte hat uns reingelegt.“