Von Straßennamen, Statuen und Frauenfeindlichkeit

Neues Buch über Hermannstadt aus der Perspektive der Erinnerungskultur

Über Hermannstadt/Sibiu wurde und wird viel geschrieben. Die zentrale Rolle der Stadt in der Geschichte der Siebenbürger Sachsen hat für eine Fülle an Dokumenten, Monografien und geschichtliche Abhandlungen gesorgt. Zugleich spielt Hermannstadt seit dem 19. Jahrhundert, einerseits durch die Gründung der orthodoxen Metropolie und des Siebenbürgischen Vereins für Rumänische Literatur und der Kultur des Rumänischen Volkes (ASTRA), sowie andrerseits durch die wichtige Rolle innerhalb des Vereinigungsprozesses nach dem Ersten Weltkrieg auch im Bewusstsein der rumänischen Bevölkerung eine nicht minder wichtige Rolle. In der jüngeren Geschichte nahm Hermannstadt während der Wende von 1989 einen wichtigen Platz ein (die zweithöchste Opferzahl nach Bukarest). Zu dem Bekanntheitsgrad der Stadt am Zibin tragen nicht zuletzt die Durchführung des Kulturhauptstadtprogramms im Jahre 2007 sowie die Wahl des Hermannstädters Klaus Johannis zum rumänischen Präsidenten 2012 bei. Doch wie widerspiegelt sich diese bewegte Geschichte in der Namensgebung von Straßen und öffentlichen Einrichtungen? Was sagen die sich in Hermannstadt befindenden Statuen und deren Platzierung über die Art, wie die politische Führung der Stadt mit der ortseigenen Erinnerungskultur umgegangen ist und noch umgeht?

Dieser eher unkonventionellen Fragestellung widmet sich der Wahlhermannstädter Dr. Mihai S. Rusu, Lehrkraft und Forscher an der örtlichen „Lucian Blaga“ Universität, in seiner jüngsten Veröffentlichung: „Locuri ale memoriei. Politicile simbolice ale spațiului public într-un oraș memorial“ (Orte der Erinnerung. Symbolische Politik des öffentlichen Raumes in einer Stadt der Erinnerung). Der 460 Seiten dicke Band ist eine Schnittstelle zwischen geschichtlicher Untersuchung, soziologischer Forschung, verwaltungstechnischer Analyse und möglichen Lösungsansätzen. Zu der Interdisziplinarität seines Vorhabens äußerte sich der Autor während der Buchvorstellung, welche am 8. November 2023 im Foyer der Universitätsbi-bliothek in Hermannstadt stattfand: „Das Buch ist nicht nur interdisziplinär, ich würde sagen es ist ein babylonisches Durcheinander der Interdisziplinarität, doch nur so konnte ich die Instrumentalisierung der Geschichte in der Gegenwart untersuchen. Es ist ein Buch über die lokale Geschichte, ohne aber nur ein Buch über Hermannstadt zu sein. Es ist eine politisch-soziologische glokale Analyse, denn ähnliche Merkmale finden sich auch anderswo wieder.“

Eine Klaus-Johannis-Straße? 

Mihai S. Rusu untersucht mittels einer breit angelegten Umfrage, das Buch beruht auf den Ergebnissen eines mehrjährigen Forschungsprojekts, in wie weit die Hermannstädter eine Beziehung zu der Geschichte ihres Wohnorts haben, wie sie diese reflektieren, wenn sie ihnen im Alltag in den verschiedensten öffentlichen Namensgebungen begegnet und wie sie eine mögliche Entwicklung/Änderung sehen würden.

Dabei bemerkte er eine dreistufige Problematik, welche er während der Buchvorstellung folgendermaßen zusammenfasste. Es ist erstens in Hermannstadt ein ausgeprägter Konservativismus zu bemerken, welcher sich in der Ehrung nationalistischer Gestalten wiederfindet, zum Beispiel Octavian Goga, Emil Cioran u.a. Zweitens kann man von einer strukturellen Frauenfeindlichkeit sprechen: von den ungefähr 800 Straßen in Hermannstadt tragen 400 den Namen einer Persönlichkeit, unter diesen sind nur vier Frauennamen. Dies platziert Hermannstadt mit seinen zwei Prozent weit unter den Landesdurchschnitt von vier Prozent. Drittens ist eine Anfechtung des deutschen Elements bemerkbar: die touristische und marketingmäßige Instrumentalisierung der deutschen Vergangenheit der Stadt hat zu Gegenreaktionen geführt, zu bemerken in den Debatten um die Platzierung der Brukenthal-Statue oder der Büste von Avram Iancu. Der Forscher fragt in der erwähnten Umfrage sogar, ob es angebracht wäre, eine Straße nach dem amtierenden Staatspräsidenten zu benennen. Obwohl Bürgermeister im Laufe der Geschichte so geehrt wurden, obwohl Persönlichkeiten sogar zu Lebzeiten diese Ehre erfahren haben und die heutzutage gültige Gesetzgebung dieses erlauben würde, haben sich 57,4 Prozent der Befragten strikt dagegen ausgesprochen.  

Ein komplexes, (nicht) leicht zu lesendes Nachschlagewerk

Mihai S. Rusu überzeugt in seinem neuen Buch nicht nur durch die Fülle an Informationen und deren kritischer Analyse, sondern er nimmt den Leser auf eine Reise mit, jenseits einer einfachen positiven oder negativen Bewertung eines Status quo. Er untersucht vielmehr die Entwicklungsprozesse, die dazu geführt haben, und kann diese dem Leser auf eine pointierte Weise darstellen. Obwohl die Lektüre packend ist, handelt es sich nicht um eine populärwissenschaftliche Abhandlung, die einem Zug gelesen werden kann. Trotzdem bleibt die Herangehensweise des Autors im Unterbewusstsein hängen: „Man sollte das Buch nicht lesen, wenn man nicht will, dass beim Eingeben von Straßennamen in Google oder in Waze einem der Kopf von für den Alltag unwichtigen Ereignissen überlaufen wird“, erklärte schmunzelnd Dr. Ștefan Baghiu während der Buchvorstellung.

Wo sieht aber Rusu einen möglichen Lösungsansatz: „Was dem kulturellen Umfeld der Stadt fehlt ist die kritische Erinnerungskultur, und zwar ein öffentlicher Diskurs, welcher problematisiert statt zelebriert und der Fragen stellt und nicht behauptet. (…) die kritische Erinnerungskultur ist eine Erinnerung, die kaleidoskopartig die Vergangenheit wiederaufbaut und ihre essenziell pluralistische und polyphone Natur hervorhebt. (…) Gleichzeitig erkennt die kritische Erinnerungskultur die Schichten, die eine Archäologie bilden und hat keine Angst, diese öffentlich zur Schau zu stellen“, kann man den Schlussfolgerungen des Buches entnehmen. 

Fazit: Hermannstadt und Rumänien brauchte eine derartige Analyse. Auch wenn der Autor selber skeptisch gegenüber dem Wirkungsgrad seiner Untersuchung, was konkrete Veränderungen im öffentlichen Raum betrifft, steht, ermöglicht das Buch eine kritische Betrachtung des manchmal idealisierten Bildes der Stadt am Zibin, ohne aber dabei rechthaberisch oder besserwissend zu wirken. Zugleich können die Schlussfolgerungen auf jede beliebige Ortschaft in Rumänien übertragen werden und verhelfen dem Leser zu einer mündigen Analyse, wenn es um Namensgebungen im öffentlichen Raum und der damit verbundenen Erinnerungskultur geht.