Warum ich meinen Geburtstag n i c h t feiere

Ich habe am 11. Juni Geburtstag. In der Woche werde ich nach Südtirol fahren und den Geburtstag mit meiner Familie begehen. Ich bin kein Feierer. Der Geburtstag ist der Tag, an dem ich an meine Mutter denke. Erst 19 Jahre alt, hat sie mich und meine anderthalbjährige Schwester, ihre betagten Schwiegereltern, ihre eigenen Eltern und zwei minderjährige Schwestern (9 und 7 Jahre alt!) mit einem Wagen – gezogen von einem Pferd, im Winter 1944/45 an Dresden vorbei, wo meine Oma mütterlicher-seits in der Bombennacht des 14. Februar als Helferin verpflichtet und eingesetzt wurde, um von Napalmbomben Getroffenen zu helfen oder ihre Leichen zu „entsorgen“ – bis nach Linz gebracht.

Dort, auf einer Wiese, hat sie mich geboren, als die Deutschen aus Südosteuropa von den Amerikanern zusammengetrieben wurden, um den Sowjets zum Rücktransport übergeben zu werden. Meine Familie wurde auf Geheiß eines US-Offiziers wegen meiner Geburt wieder abgeladen. Er hat Mutter und Kind ins Lazarett nach Bad Hall gebracht, was mein offizieller Geburtsort ist. Wegen dieser Sturzgeburt war meine Mutter ein halbes Jahr lang sterbenskrank. Sie wusste zu dieser Zeit nicht, dass ihr Mann/mein Vater im Februar 1945 in der Schlacht um Ostpreußen irgendwo gefallen ist. Seine Einheit wurde vollständig aufgerieben. Das Grab ist unbekannt.

Unter den Abtransportierten, die nach Rumänien zurückgebracht wurden, war auch die Schwägerin meiner Oma mütterlicher-seits mit zwei kleinen Kindern, die erst 1957 wieder nach Deutschland zurückkehrten. Ihre Kinder hat sie erst kurz vorher wieder zurückbekommen. Sie sprachen kein Deutsch mehr. Ihr Mann war bereits 1951 aus der sowjetischen Gefangenschaft entlassen worden. Ferner gehörte dazu auch die zuletzt in Ili{e{ti lebende einzige Deutsche, Frau Zachmann, die ich mit meiner Frau 2001 besucht habe, ohne zu wissen, dass sie eine Freundin meiner Mutter war. Sie erzählte mir ungefragt, dass sie meine Mutter zuletzt gesehen habe, als sie ein Kind auf der Wiese gebar. Dann wurde sie mit den anderen weggefahren, sodass sie nicht erfuhr, ob es sich um ein Mädchen oder einen Buben gehandelt hat. Dieses Kind saß ihr 56 Jahre danach gegenüber.

Ein unglaublicher Moment. Sie lebt jetzt in Weiden. Ihre fünf Söhne waren nach Deutschland ausgewandert. Sie war nach ihrer Entlassung aus der Zwangsarbeit nach Ilişeşti zurückgekehrt und hat dort einen aus der Gefangenschaft ebenfalls nach dort zurückgekehrten Zachmann getroffen und geheiratet. Ihre 1976 dort geborene Enkelin, die mit 11 Jahren mit ihrem Vater nach Deutschland kam, habe ich vergangenen Freitag (20. März) im Generalkonsulat Rumäniens beim Bukowiner Abend kennengelernt. So klein ist die Welt.

Ich bin meiner Mutter unendlich dankbar, dass sie ihr Schicksal so tapfer ertragen hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass es mir als Kind schlecht ging, auch wenn sie selbst Hunger litt. Leider ist sie 1974 früh an Krebs gestorben. Ich bin überzeugt, es war auch ein Folge der physischen und psychischen Überlastung in jungen Jahren. Deshalb ist der Geburtstag für mich ein Gedenktag und kein Feiertag. Denn ich verdanke mein Leben meinen Eltern, insbesondere meiner Mutter. Dass ich so alt geworden bin, ist kein eigener Verdienst, sondern ein Gnade Gottes.


Der Verfasser der obigen Zeilen, Ewald Zachmann, ist seit 1995 der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Buchenlanddeutschen in Deutschland. Um das sehr persönlich gehaltene Schreiben besser zu verstehen, hier einige Familienangaben und biografische Daten: Die Zachmanns, die ursprünglich aus dem badischen Kieselbronn stammten, waren in der Zwischenkriegszeit eine große Sippe in der südbukowinischen Großgemeinde Ilişeşti (5000 Einwohner, die Hälfte Deutsche) unweit Suczawa/Suceava. Umsiedlung und Krieg bestimmten die Schicksale neu. Der Vater von Ewald Zachmann war 31, als er eine 17-Jährige heiratete. Mit 20 war sie dann Witwe mit zwei Kindern. Die Umsiedlungszeit in Oberschlesien (Bilany) hatte nicht lange gedauert, Anfang 1945 bewegten sich riesige Flüchtlingstrecks Richtung Westen und Südwesten, darunter auch die Familienangehörigen der Zachmann, außer dem Vater. Nach der Einbürgerung wurden die wehrtauglichen Männer aus den Reihen der Umsiedler ohne Rücksicht auf die Familienlage in einer neuen, fremden Welt eingezogen.

In Österreich blieben die Zachmanns nur zwei Jahre, weil die Volksdeutschen, auch die Bukowiner Alt-Österreicher, lange Jahre entrechtet blieben. Trotz aller Mühen und Sorgen konnte Ewald das Gymnasium besuchen und erhielt 1966 sein Abiturzeugnis in Ravensburg. Ab dem Sommersemester des gleichen Jahres begann er ein Jura-Studium in München. Nachdem alle Prüfungen und Referendarzeiten abgeleistet waren, erhielt er 1974 die Zulassung als Rechtsanwalt. Bekannter wurde er als Kommunalpolitiker und langjähriger Bürgermeister der Gemeinde Olching (bei München) und stellvertretender ehrenamtlicher Landrat. Seine zahlreichen Ehrenämter und Auszeichnungen können hier nicht aufgeführt werden.
(Biografische Angaben Luzian Geier)