Weniger ist mehr

Zwei Amerikaner und ihre Anti-Materialismus Mission

Minimalistische Wohnung: Gerade Linien, wenige Möbel und Gegenstände. Das Ergebnis: Ordnung, weniger Aufräum-Stress und dafür Platz für Gedanken.

Minimalismus bedeutet, sich auf das Wesentliche zu beschränken.

Nur das Wichtigste soll bleiben. Je weniger man hat, desto mehr Raum gibt es für andere Aspekte des Lebens.
Fotos: der Verfasser

Was ist das Endziel? Ist es eine erfolgreiche Karriere in einem großen Unternehmen, ein großes Haus, ein teures Auto, ein Flachbildschirm-Fernseher und Schränke voller Gegenstände, mit denen man nichts anfangen kann? Wünschen tut man es sich schon: Die Fantasie vom amerikanischen Traum ausleben. Was es genau ist, bleibt oft eine Interpretation. Die Elterngeneration erlebte es indirekt aus Spielfilmen und Kult-Fernsehserien, die von Irina Margareta Nistor übersetzt wurden. Sie gewährten einen Einblick in ein Land, wo Milch und Honig floß, zumindest augenscheinlich. Als die Kühlschränke leer waren und jeder das gleiche Paar Hosen, die gleiche Wohnzimmereinrichtung und den gleichen Fernseher hatte, schien Amerika eine unwirkliche Welt zu sein, wo es scheinbar Dinge gab, die man sich nicht einmal vorstellen wollte oder konnte. 

Die Vereinigten Staaten, der geschickteste Exporteur materialistischer Werte, wo jede Filmproduktion über Gut und Böse auch gleichzeitig subliminal ein Konditionierungsprozess ist. Schließlich bleibt jenseits der moralischen Frage was richtig und was falsch ist, eine Sache unanfechtbar: Coca-Cola schmeckt immer und jedem. 

Diese geschickte Verflechtung von Konsum und Unterhaltung führte im 20. Jahrhundert zum globalen Erfolg der amerikanischen Wirtschaft. Die Deutschen durchlebten den Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg. Die goldenen 1950er Jahre führten zur Amerikanisierung Deutschlands. Alles was aus den USA kam war hipp und cool: Eine neue, bessere, fröhlichere Welt, die den Menschen half, das Grauen des verbrecherischen Nazi-Regimes zu verdrängen. 

Nicht anders die Rumänen in den 1990er Jahren. Endlich konnte man so wie die Helden von Dallas leben. Endlich konnte man dem hohlen Versprechen amerikanischer Filme Glauben schenken und sich selbst einreden, dass nichts unmöglich ist. Jeder kann erfolgreich sein und jeder kann glücklich sein. Nur, was bedeutet Glück? Ist es das fiktive Leben fiktiver Figuren, die von Hollywoodstars interpretiert werden? 

Die Minimalisten

Zwei Männer wagen zu widersprechen – und es sind ausgerechnet zwei Amerikaner: Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus haben den Amerikanischen Traum gelebt und sind daran zugrunde gegangen. Millburn war 28 als er seinen Lebenssinn verlor. Dabei hatte er alles, was sich die Meisten in seinem Alter wünschen: eine erfolgreiche Karriere, mehr Geld als er ausgeben konnte, ein großes Haus, teure Anzüge und ein Luxus-Auto. Doch dann starb seine Mutter und seine Ehe endete: zwei Schicksalsschläge innerhalb eines Monats. 

Nachdem seine Mutter an Lungenkrebs verstarb, musste sich Millburn um ihre Sachen kümmern. Beim Aufräumen ihrer alten Wohnung merkte er schnell, wie viele Gegenstände seine Mutter Zeit ihres Lebens gesammelt hatte. Und er wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Wohin mit den Sachen? Schließlich waren Erinnerungen damit verbunden. Der Grund, weshalb seine Mutter die Gegenstände über die Jahre aufbewahrt hatte. Auf der Suche nach einer Lösung setzte er sich immer mehr mit dieser Problematik auseinander: Verliert man Erinnerungen, wenn man Gegenstände aufgibt? Die Antwort war für Millburn klar: Nein. Je mehr er versuchte, an den Sachen festzuhalten, die seiner Mutter gehörten, desto stärker wurde die Erkenntnis, dass diese Gegenstände nicht die Erinnerung an seine Mutter sind und dass die meisten Sachen schon zu ihren Lebzeiten keine Verwendung mehr gefunden haben. Also spendete er sie Freunden oder verkaufte sie und spendete das Geld Hilfseinrichtungen und es war für ihn am Ende eine Befreiung. 

Dies war der erste Schritt, den Millburn unternahm, um sein Leben grundlegend zu verändern und einen neuen Sinn zu finden. Danach fing er damit an, sich täglich von einem Gegenstand zu befreien. Er gab eine Sache auf, die er in seinem Haus hatte. Und je mehr er aufgab, desto befreiter fühlte er sich. In acht Monaten hatte er 90 Prozent seiner Sachen weggegeben. „Wer mich heute besucht, wird vermutlich nicht gleich zu dem Schluss kommen ‚Oh, wow, dieser Typ ist ein Minimalist’”, so Millburn in einem Ted Talk von 2016. Er würde zwar nicht wie ein Mönch in einem Kloster leben, sein Haus würde aber auf jeden Fall ziemlich ordentlich ausschauen. Das Geheimnis: Er besitzt sehr wenige Sachen. Aber das, was er besitzt, würde sein Leben tatsächlich bereichern. 

Ryan Nicodemus ist Millburns bester Freund und schloss sich dessen neuen Lebensstil an. Auch ihm ging es finanziell mehr als gut, er fand aber kein persönliches Glück. 

„Je mehr wir konsumieren, desto mehr Abfall produzieren wir”, erklärt Nicodemus. „Logischerweise würden wir auch weniger Abfall erzeugen, wenn wir weniger konsumieren würden. Wenn überhaupt die gesamte Welt so viel wegwerfen würde wie die Vereinigten Staaten jährlich, würden wir eine Erde brauchen, die vier Mal größer ist.”

Mission für die Welt

Seit zwölf Jahren führen Millburn und Nicodemus die Webseite theminimalists.com. In über acht Ländern haben die beiden Bestseller-Autoren Vorträge gehalten. Sie haben bisher erfolgreich vier Bücher veröffentlicht, führen einen Podcast und sind die Hauptakteure in zwei Dokumentarfilmen über Minimalismus. 

Ihre Mission: Weg vom Materialismus. Ein fast anti-amerikanischer Gedanke. Jedoch bedeutet Minimalismus nicht etwa eine Rückkehr zur Knappheit in den letzten Jahren des Ceauşescu-Regimes. Viel mehr geht es den beiden um eine Neuausrichtung und eine kritische Auseinandersetzung mit dem über Jahrzehnte unterschwellig eingetrichterten Konsumverhalten des modernen Menschen. Gegenstände sollen eine Funktion erfüllen und nicht zu Totems auserkoren werden. Je mehr man sich vom Konsum loslöst, desto mehr Zeit wird man für andere, wichtigere Dinge im Leben finden. Für Freunde, Beziehungen, Familie. 

Die Frage jedoch, die oft besonders in Ländern der Zweiten Welt aufkommt, ist: Hat man bereits die nötige Reife als Gesellschaft erlangt, um diesen Schritt zu wagen? Sich vom oberflächlichen Materialismus loszulösen? 

Schließlich haben auch Millburn und Nicodemus ein Leben in Saus und Braus kennengelernt, ehe sie es aufgegeben haben. Gerade darum ist Minimalismus eher zu einem Modewort in Deutschland avanciert. Rumänien ist von einem wohlhabenden Land noch weit entfernt. Den amerikanischen Traum haben die wenigsten gelebt. Was die Minimalisten Millburn und Nicodemus vorschlagen, ist in gewisser Weise eine Rückkehr zu Werten, welche im Sozialismus gepredigt wurden. Sei es aus einem Mangel heraus oder aus einem tatsächlichen ideologischen Glauben. 

Erste Welt Probleme

Es wird also schwierig sein, den Weg des Minimalisten in Rumänien einzuschlagen. Überhaupt gibt es noch genügend Baustellen. Schon allein die Aufarbeitung unserer eigenen Vergangenheit ist mangelhaft, noch viel zu groß der Drang, sich vor der Verantwortung zu drücken. 

Man möchte einfach gut leben und im Fall eines Landes wie Rumänien wird ein gutes Leben weiterhin mit materialistischem Wohlstand gleichgesetzt. 

Die Abkehr davon wird allerdings unausweichlich sein. Wie auch der Autor David Foster Wallace in einer Rede einst sagte: Wir alle beten etwas an. Ob Gläubiger oder Atheist spielt keine Rolle. Wir alle verschreiben uns einer Sache, die wir kritiklos anbeten. Und wir alle werden ausnahmslos in dieser kompletten Hingebung unglücklich. Weil es am Ende nicht ausreichen wird. 

Das ist auch das Dilemma einer Konsumgesellschaft: Es wird einem unterschwellig Glück versprochen in Form eines Produkts. Vergängliches Glück. Sobald man sich dieser Dinge nicht mehr erfreuen kann, hat man zwei Alternativen: Entweder man kauft sich andere Gegenstände, welche die Leere füllen sollen oder man sucht einen Weg raus aus der Konsumfalle. 

Früher oder später wird vermutlich jeder den zweiten Weg einschlagen. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit.