Wie der Westen den Krieg in der Ukraine ermöglichte

Europas Angebot an die Ukraine war rechtspolitisch attraktiv, militärisch ambivalent und finanziell dürftig

Euromaidan: Kiew am 27. November 2013
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„Eine monopolare Welt, das heißt: ein Machtzentrum, ein Kraftzentrum, ein Entscheidungszentrum. Dieses Modell ist für die Welt unannehmbar. Es ist vernichtend, am Ende auch für den Hegemon selbst.“ Wladimir Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007.
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Im Gegensatz zu den Behauptungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin und der Meinung von Politikwissenschaftlern wie John Mearsheimer war die Nato-Erweiterung nicht die Ursache für die Invasion Russlands in der Ukraine. Ebenso wenig war es ein plötzliches Abgleiten Putins in die Irrationalität. Dieser hatte seine irredentistischen Absichten, beginnend mit seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007, nämlich schon lange signalisiert. Die wichtigsten Wegbereiter für die russische Invasion waren vielmehr Europas Spaltung und Ambivalenz, durch die sich eine Lücke auftat, wo eigentlich eine Strategie hätte sein müssen. 

Der Wettstreit um die Ukraine nahm Anfang 2008 seinen Ausgang. Auf Grundlage eines hohen Ölpreises und Putins einzementierter Herrschaft begann sich Russland seiner Nachbarschaft zuzuwenden. Der Krieg in Georgien im Sommer jenes Jahres zeigte die Entschlossenheit und Ambition des Kremls, doch strategisch hatte man es immer auf die Ukraine abgesehen. Gleichzeitig bemühte sich der Westen mit der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union sowie der amerikanischen Ermutigung für einen Nato-Beitritt die Ukraine in seinen Einflussbereich zu locken.  

Konfuse Initiativen seitens der Europäischen Union

Ab diesem Zeitpunkt war es absehbar, dass sich die Spannungen im Hinblick auf die Ukraine verschärfen würden. Doch in den darauffolgenden 14 Jahren verfolgten die EU und ihre Mitgliedsstaaten eine Reihe gefährlich konfuser Initiativen. Ihr Versagen, Rechts-, Sicherheits- und Finanzpolitik aufeinander abzustimmen, schuf den Kontext, in dem Krieg möglich wurde.

In rechtlicher Hinsicht verfolgte die EU eine Strategie des Anreizes. Im Rahmen der Östlichen Partnerschaft förderte die Union die allmähliche Annäherung der Rechts- und Wirtschaftsordnung sowie des politischen Systems der Ukraine an europäische Standards. Die EU machte ihre geopolitischen Absichten deutlich und betonte, dass sich die Ukraine zwischen Brüssel und Moskau entscheiden müsste: Sie könne nicht gleichzeitig der Eurasischen Wirtschaftsunion Russlands beitreten und ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterschreiben.

In der Sicherheitspolitik herrschte hingegen Uneinigkeit. Während die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und Polen den Nato-Beitritt der Ukraine lange befürwortet hatten, waren Deutschland, Frankreich und Italien dagegen. Vom Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 bis hin zu den Ausbildungs- und Versorgungsmissionen im Gefolge der russischen Invasion der Krim im Jahr 2014 sendete der Westen weiterhin widersprüchliche Signale – die zu schwach waren, um Russland abzuschrecken, aber doch zu bedrohlich, um vom Kreml ignoriert zu werden. Diese Unklarheit wurde zur Formel für die Eskalation.

Gefährliche Finanzstrategie

Die sicherheitspolitische Unklarheit allein wäre vielleicht nicht so verhängnisvoll gewesen, hätte Europa eine wirksame Finanzstrategie verfolgt, um seinen Ansatz im Bereich Rechtspolitik zu ergänzen.

Eine wirtschaftlich und finanziell stabile Ukraine hätte sich wo-möglich weiter auf den Einflussbereich der EU zubewegt und zwar bis zu einem Punkt, an dem ein Nato-Beitritt zwar gewagt, aber doch machbar oder vielleicht sogar unnötig gewesen wäre. Innenpolitische Turbulenzen, Bürgerkrieg und damit der Zeitpunkt für den Einmarsch Russlands wären vielleicht nie gekommen.

Doch das Gegenteil war der Fall. In zwei entscheidenden Phasen, als die Ukraine finanzielle Unterstützung am dringendsten brauchte, ließ Europa sie im Regen stehen.

Zunächst erhielt die Ukraine, wie die meisten osteuropäischen Länder, während der globalen Finanzkrise des Jahres 2008 wenig Aufmerksamkeit.

Da die Hälfte aller ukrainischen Kredite aus der Zeit vor der Krise auf Fremdwährungen lautete, hätte eine Dollar- oder Euro-Swap-Linie den finanziellen Zusammenbruch weitestgehend verhindern können. Doch während die USA Mexiko eine Dollar-Swap-Linie gewährten, zeigte sich die Eurozone nicht bereit, den EU-Mitgliedern Polen und Ungarn, geschweige denn der Ukraine, ähnliche Hilfen zukommen zu lassen.

Erzwungene Sparpolitik führte zur Krise

Aufgrund ihres dringenden Bedarfs an Dollar und Euros blieb der Ukraine nichts anderes übrig, als sich an den Internationalen Währungsfonds zu wenden und eine strikte Sparpolitik zu verfolgen. Das führte zu einem Rückgang des BIP um 15 Prozent, einer Inflationsrate von 22 Prozent sowie einer anhaltenden Krise der ukrainischen Stahlindustrie und verhalf dem pro-russischen Kandidaten Viktor Janukowitsch 2010 ins Präsidentenamt.

 Janukowitsch wandte sich unverzüglich um finanzielle Unterstützung an den Kreml und erhielt im Gegenzug für die Verlängerung des russischen Pachtvertrags für den Marinestützpunkt Sewastopol auf der Krim einen Preisnachlass von 30 Prozent auf russisches Gas, das die Ukraine bezog.  

Auswirkungen der US-Geldpolitik

Der zweite Zeitpunkt war im Jahr 2013 gekommen, als die Ukraine von den weltweiten Auswirkungen der Straffung der US-Geldpolitik getroffen wurde. Als der damalige Vorsitzende der Federal Reserve Ben Bernanke ankündigte, das Fed-Programm der quantitativen Lockerung auslaufen lassen zu wollen, strömten die Dollars von den Schwellenmärkten wieder zurück in die USA. Die Kreditkosten der Ukraine stiegen von 7-8 Prozent sprunghaft auf über 11 Prozent an. Gleichzeitig beobachtete Putin, wie sich die Ukraine in kleinen Schritten immer stärker an die Rechtsordnung der EU annäherte, woraufhin er Sanktionen auf ukrainische Exporte verhängte, angefangen mit dem mittlerweile als kurios anmutenden „Schokoladenkrieg.” Ende 2013 stand die Ukraine vor der Zahlungsunfähigkeit und einer Rezession.

Russland erkannt die Gelegenheit und unterbreitete der Ukraine ein strategisches Angebot: 12 Milliarden Dollar jährlich an Subventionen und wirtschaftlichen Vergünstigungen, wenn das Land auf das Assoziierungsabkommen verzichtet – oder eine Verschärfung der Sanktionen, sollte Janukowitsch das Abkommen doch unterzeichnen.

Verkennung der Tatsachen

Die europäischen Wirtschafts- und Finanzfachleute haben weder Russlands ernste Absichten noch das Ausmaß der ukrainischen Notlage erfasst. Offizielle Vertreter Deutschlands schätzten die Auswirkungen möglicher russischer Sanktionen auf mickrige 3 Milliarden Dollar pro Jahr, ein Bruchteil der – zweifellos strategisch überhöhten – von der Ukraine angegebenen Zahl von 160 Milliarden Dollar jährlich. In Verkennung der Tatsachen und der geopolitischen Folgen ihrer Knauserigkeit unterbreitete die EU ein Gegenangebot in der Höhe von 610 Millionen Euro, also weniger als ein Zehntel der von Russland angebotenen Summe.  

Unter dem Druck des Kremls und angesichts des niedrigen Angebots der EU gab Janukowitsch das Assoziierungsabkommen auf und akzeptierte stattdessen weitere Rabatte auf Gas und einen russischen Kredit über 15 Milliarden Dollar zu Vorzugsbedingungen. Auch das hätte noch keinen Krieg bedeutet, wäre die Ablehnung Europas allumfassend gewesen. Doch während Janukowitsch versuchte, sich mit Europas finanzieller Knauserigkeit zu arrangieren, wurden die Menschen in der Ukraine in den rechtspolitischen Bann der EU gezogen.

Euromaidan

Ob ein mutiges finanzielles Angebot angesichts der inneren Spaltung der EU und der Korruption in der Ukraine zum damaligen Zeitpunkt realistisch gewesen wäre, sei dahingestellt. Jedenfalls führten die aufgestauten Widersprüche zu den Euromaidan-Protesten, die Janukowitsch das Amt kosteten und der russischen Annexion der Krim ebenso den Weg ebneten wie dem russischen Einmarsch in die ost-ukrainische Region Donbas und dem heutigen Krieg. Der damalige Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, hat mit Sicherheit untertrieben, als er feststellte: „Ich glaube, wir haben die Dramatik der innenpolitischen Situation in der Ukraine unterschätzt.”

Europas Angebot an die Ukraine war rechtspolitisch attraktiv, militärisch ambivalent und finanziell dürftig. Für Russland war es zu umfassend, um damit entspannt umzugehen.

Verteidigungspolitisch war es zu schwach, um wirksame Abschreckung zu bieten und finanziell war es zu mickrig, um die wankelmütigen ukrainischen Eliten auf einem Pro-EU-Kurs zu halten, als es wirklich darauf ankam.  In Ermangelung einer Gesamtstrategie erwies sich Europas Ansatz als Garant für die Katastrophe.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier


Max Krahé ist politischer Ökonom, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen sowie Mitbegründer der Denkfabrik Dezernat Zukunft.