Wieder auf der Sonnenseite

Deutsch-Weißkirch: Ein verlassenes Sachsendorf wird neu geboren ... und zum international bekannten Vorzeigemodell

Caroline Fernolend - eine Frau mit Visionen

Dank des Mihai Eminescu Trusts wieder ein schmuckes Dorf mit lebenden Traditionen

Ein delikates Gleichgewicht: Bewahrung von Kulturerbe, Tourismus, Ökologie und sozialen Projekten

Mit dem deutschen Botschafter Werner Hans Lauk bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes
Fotos: Cristian Radu, George Dumitriu

„Meine Großmutter war stolz: Ein Junge von der Sonnenseite - noch dazu blond!“ Sie lacht ihr perlendes Lachen - besonders, wenn sie von früher erzählt: Von der Geborgenheit in der Gemeinschaft ihres sächsischen Heimatdorfs. Von ihrem Drang, von Kindesbeinen an immer und überall dabei zu sein, am Dorfleben teilzuhaben. „Caroline, du bist klein, es ist kalt draußen, bleib zuhause!“, mahnte ihr Vater oft. Doch Wind und Schnee konnten das quirlige Mädchen nicht abhalten, mit den anderen sogar auf den Friedhof zu laufen. Sie erzählt von ihrer Rückkehr aufs Dorf, 1983, nach ihrem Wirtschaftsstudium in Kronstadt/Braşov, obwohl sie das heißbegehrte „buletin de oraş“ - die Genehmigung zum Umzug in die Stadt - längst hätte haben können. Von ihrer Heirat mit einem sächsischen Jungen: „Natürlich haben wir uns von Kindesbeinen an gekannt!“ Und wie sich die Großmutter freute über die gute Partie, denn die Familie des Bräutigams lebte auf der Sonnenseite des Dorfes, dort, wo man im Winter weniger Feuerholz brauchte...

Viel Zeit ist seither ins Land gegangen. Vieles hat sich verändert. Nur das Mädchen, das es geschafft hat, auf die Sonnenseite des Dorfes zu gelangen, wohnt immer noch dort. Und heute liegt dank ihr ganz Deutsch-Weißkirch auf der Sonnenseite: Als international bekanntes Vorzeigedorf für eine gelungene Vereinigung von Traditionen, Kulturerbe und wiederbelebtem altem Handwerk mit neu gewonnenem Tourismus, zudem ein Vorbild im Umweltschutz. Eine lebende, funktionierende Dorfgemeinschaft, in deren Zentrum die schneeweiße Kirchenburg thront, ihr Namensgeber und Aushängeschild, doch längst nicht mehr die einzige Attraktion.

Was ist wichtiger - das Althergebrachte oder die modernen Konzepte? In dem Dorf verschmelzen die Dinge: Ist es ein lebendes Museum im UNESCO-Welterbe - oder zukunftsweisendes Experiment für ein Dasein im Einklang mit der Natur? Ist es das Dorf der wenigen gebliebenen Sachsen, das der Rumänen und Roma, oder das der Zurück-zur-Natur-Apostel aus dem In- und Ausland, allen voran der britische Thronfolger, der nicht nur ein Anwesen in Deutsch-Weißkirch besitzt, sondern sich als Schirmherr des Mihai Eminescu Trusts (MET) für die Bewahrung der dörflichen Authentizität einsetzt? Für Caroline Fernolend, Gemeinderätin und Vizepräsidentin des MET, ist es vor allem eins: Heimat.

Dem Dorf beim Sterben zusehen

Freilich hat auch sie zur Zeit des Kommunismus mit der Aussiedlung nach Deutschland geliebäugelt. Zu groß war die Sehnsucht, frei zu handeln, ausdrücken zu dürfen, was man denkt. Doch als 1989 der große Umschwung kam, sagte sich die junge Frau: „Nun sind wir ja frei. Nun können wir unsere Pläne und Ideen hier umsetzen!“

Nach dem Studium in Kronstadt in den Schoß des Dorfes zurückgekehrt, arbeitete sie zunächst als Buchhalterin bei der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, dann als Lehrerin an der Grundschule. Schmerzlich ist ihr vor allem der Auszug der Sachsen in Erinnerung geblieben: Eine Familie nach der anderen verließ das Dorf, Nachbarn, Freunde, über Nacht verloren. „Im Januar 1990 waren wir noch 300, im Dezember nur noch 68“ erinnert sie sich wehmütig. „Wer soll nun erhalten, was Generationen vor uns mühevoll aufgebaut haben?“ Auf dem allabendlichen Weg zum Milchholen, mit dem Töchterchen an der Hand, passierte sie leerstehende Häuser. „Du musst dir gut merken, wer dort gewohnt hat, Ursula“, instruiert sie das Kind. „Denn du bist jetzt die letzte Sächsin.“ Sie begann, Objekte zu sammeln, die Auswandernde verkauften oder achtlos zurückließen. Sollte sie ein Museum einrichten? Der Gedanke an den Verlust der sächsischen Gemeinschaft tat weh.

Der Schutzengel aus Übersee

Dass auch kleine Anstöße große Veränderungen in Gang setzen können, erfahren die meisten ihrer Urheber nie. So ging es auch Professor Glenn Ernst Lich aus Texas, der 1991 erstmals nach Deutsch-Weisskirch kam und für drei Monate zurückkehrte, um ein Buch über die dortigen Frauen zu schreiben. So lernte er Carolines Mutter, Sara Dootz, kennen, die inzwischen zusammen mit Ehemann Gerhard die Aufgabe als Burghüter übernommen hatte. Sie war es, die ihm von dem brennenden Wunsch ihrer Tochter, etwas für das Dorf zu tun, erzählte. Am dringendsten drückte Caroline damals die Frage, wohin mit den gesammelten Dingen für das geplante Museum. „Geh zum Bischof“, riet ihr da der Amerikaner. „Ich - zum Bischof?“ echote die junge Frau. Doch nach dem ersten Schock fasste sie sich ein Herz - und erhielt die Erlaubnis, im dörflichen Pfarrhaus eine Ausstellung einzurichten. Fortan trafen sich die ambitionierte Sächsin und ihr Mentor fast täglich. „Ihr müsst ein Dorffest ins Leben rufen, wenn ihr Aufmerksamkeit wollt“ empfahl er ihr als nächstes. Das erste Kronenfest seit dem Fortgang der Sachsen erwies sich als großartiger Erfolg. Die Gäste strömten nicht nur aus ganz Siebenbürgen, sondern sogar aus Bukarest herbei. Deutsches Fernsehen, Journalisten, Botschaftsvertreter... „Wir wussten gar nicht, wie wir für so viele Leute kochen sollten“, kichert Caroline.

Wider Erwarten gelang es ihr, die Dorfgemeinschaft neu zu motivieren: 60 Freiwillige - diesmal Rumänen und Roma - kamen, um das Schuldach zu reparieren. „Wir Sachsen haben auch nicht gewartet, bis der Staat etwas für uns tut“, hatte sie ihnen erklärt. Doch jeder erfolgreiche Schritt schien ihr immer noch nicht genug. „Schreib einen Businessplan“, forderte der Professor sie eines Tages heraus.  Kichernd gibt sie zu: „Das Wort hatte ich nie zuvor gehört!“ Telefonzentrale, Möbel für die Schule, ein Fußballplatz... Ideen, die heute längst verwirklicht sind, gewannen so erste Konturen. Was anfangs nur als Übung gedacht war, entpuppte sich als Auslöser einer Dominokette. Ein Stein brachte den nächsten zum Kippen.
Heute ist Caroline Fernolend dienstältestes Mitglied im Gemeinderat von Bodendorf/Buneşti - seit 1992. Auch diesen Schritt verdankt sie ihrem Mentor. „Wenn du etwas bewirken willst, musst in die Politik gehen“, hatte er insistiert. „Als Frau, jung, und noch dazu Sächsin...“ gab sie zu Bedenken. Der Texaner konterte nur: „Hast du es denn versucht?“
Glenn Lich hat das Ausmaß seiner Hilfestellung leider nicht mehr erlebt. 1997 fiel er in seiner Heimat einem Verbrechen zum Opfer. Doch der Schutzengel von Deutsch-Weißkirch, so scheint es, arbeitete weiter...

Ein Glücksfall namens Charles

Mut, Glück und eine gute Portion an Sturheit gehören seither zum Erfolgsrezept von Caroline Fernolend. Das Glück kam in Person von Jessica Douglas-Home, Präsidentin des Mihai Eminescu Trusts, der sich seit 1987 für den Erhalt authentischer Dörfer in Rumänien einsetzte. Von Carolines Aktivitäten begeistert, versprach sie, Prinz Charles nach Deutsch-Weißkirch zu bringen. „Wir hatten acht Minuten, um ihn von unseren Ideen zu überzeugen“, erinnert sich Caroline Fernolend an den hohen Besuch. Zwei Jahre später begegnete sie ihm anlässlich der Schirmherrschaftsübernahme in London wieder. „Warum bist du nicht wie damals in der schönen Tracht gekommen?“ neckte sie der Thronfolger. Seit 2005 ist Caroline selbst Vizepräsidentin des MET. Über 1200 Projekte in  80 Dörfern und 5 Städten wurden zwischen 2000 und 2014 unter ihrer Regie durchgeführt. Das Repertoire reicht von Fassadenrestaurationen über soziale und Umweltprojekte. Ein Schwerpunkt liegt auf der Wiederbelebung traditioneller Handwerksberufe, die arbeitlosen Familien eine finanzielle Basis geben soll.

„Damit wollten wir nicht nur soziale Probleme lösen, sondern auch das Bewusstsein für Kulturerbe schulen“, erklärt die Gemeinderätin. In den ersten Jahren werden die frisch ausgebildeten Handwerker vom MET mit Aufträgen unterstützt, doch das Projekt sieht vor, dass sie irgendwann unabhängig werden. In Deutsch-Weißkirch ist dies bereits gelungen: Lokale Einwohner, aber auch Fremde, gehören zum festen Kundenkreis.

Wiedergeburt mit Modellcharakter

Caroline Fernolend freut sich, dass es ihr gelungen ist, ihren Heimatort neu zu beleben. „Gemeinsam haben wir hier eine  Gemeinschaft geschaffen - anders als früher, aber auch schön“, lächelt sie zufrieden. „Wir haben wieder einen Ball, jetzt mit Rumänen und Roma, freilich fehlen Walzer und Polka, aber ich habe dafür Sârba, Ha]egana und Invârtita gelernt.“ „Von Oktober bis April empfangen wir keine Touristen“, fährt sie fort, „denn diese Zeit gehört nur der Dorfgemeinschaft.“ Dann bleiben die Gästehäuser geschlossen und die Menschen treffen sich zum Feiern, Plaudern und Pläneschmieden. Nicht jeder Zugereiste, der vom Ruf des Dorfes profitiert, bringt sich dort ein, bedauert sie ein wenig, doch überwiegen die Synergieeffekte.

Längst ist es nicht mehr nötig, für Tourismus in Deutsch-Weißkirch zu werben. „Mit 100 Betten haben wir ein Limit erreicht, mehr wäre gar nicht gut, um nicht an Authentizität zu verlieren.“ So versucht sie , das Interesse auf die anderen fünf Dörfer - Deutsch-Kreuz/Criţ, Malmkrog/Mălâncrav, Almen/Alma Vii, Reichesdorf/Richiş und Arkeden/Archita - zu lenken. „Almen ist viel schöner“, zwinkert sie listig und fügt an, dass sie norwegische Fonds zur Restauration der dortigen Kirchenburg an Land gezogen hat.

Vorzeigecharakter hat Deutsch-Weißkirch aber auch als erstes Dorf mit Naturkläranlage für über 1000 Personen. „Ich habe das damals in Belgien gesehen und 15 Jahre dafür gekämpft“, erklärt Caroline Fernolend. Der Klärprozess erfolgt auf Basis von Bakterien oder Schilf. Die Abwässer werden in drei Lagunenbecken außerhalb des Dorfes gesammelt, auf lehmigem Grund, um das Grundwasser nicht zu gefährden. Sie verfügt über die geeignete Neigung, so dass man keine Pumpen benötigt. „Der Betrieb der 2011 errichteten Anlage kostet die Gemeinde  also keinen Pfennig“, freut sich die Sächsin.

Zwischen 2008 und 2011 hat MET  in Deutsch-Weißkirch die Kanalisation für das ganze Dorf angelegt - unumgänglich für ein modernes Tourismusziel. Bedauerlich  nur, dass die geplante Übertragung des Modells auf weitere zehn Dörfer, fest mit  Rovana Plumb vereinbart, durch den Wechsel  der Ministeriumsleitung im Sande verlief. „Als hätten wir den Vertrag nur mit der Person abgeschlossen“, bemerkt Caroline trocken. Doch auch Rückschläge hat die Kämpferin einstecken gelernt.  
Die Kraft für ihr Lebenswerk verdankt sie ihrer Ehrfurcht vor dem Kulturerbe der Ahnen. „Meine Großmutter, Sara, hat diesen Samen der Liebe in mein Herz gelegt“ gesteht sie in ihrer Dankesrede zur Verleihung des deutschen Bundesverdienstkreuzes. „‚Wie ist es möglich, dass wir eine so schöne Kirchenburg haben?‘ fragte ich sie als Kind. Sie sagte: ‚Weil jedes Paar bei seiner Trauung einen Wagen voll Steine für ihre Reparatur mitbringen muss‘“.  Die  Botschaft war deutlich: Geteilte Mühen und stetiger Einsatz können auch hehre Träume in erreichbare Ziele verwandeln.