Wort zum Karfreitag: Übermaß der Liebe

In dem Gedicht „Der Löwe von Florenz“ preist der Dichter die Mutterliebe. Ein gefangener Löwe entkam in Florenz seinem Zwinger und stürmte durch die Straßen der Stadt. Die Leute flohen vor der wütenden Bestie. Im Nu waren die Straßen menschenleer. Nur ein Kind spielte ahnungslos an einem Brunnen. Niemand wagte es, das Kind zu retten. Schon ertönte in der Nähe des Kindes das furchtbare Gebrüll des Löwen, schon erfasst er es mit seinen gewaltigen Zähnen, da rennt die Mutter des Kindes auf den Löwen zu, reißt dem verblüfften Raubtier das Kind aus dem Rachen und rettet ihm das Leben mit einem Sprung in das nächste Haus. Die Liebe der Mutter zu ihrem Kind war größer als die Angst vor dem Tod.

Kann es noch eine größere Liebe als Mutterliebe geben? Es war im Ersten Weltkrieg 1916 bei Verdun. Nach einem abgeschlagenen Sturmangriff lagen verwundete Franzosen schwer stöhnend in einem Bombentrichter vor der deutschen Linie. Über sie hinweg tobte das Gewehrfeuer mit neuer Heftigkeit. Schrecklich klang das Stöhnen und Klagerufen der hilflosen Verwundeten. Das konnte ein junger deutscher Kriegsfreiwilliger nicht länger mehr anhören. Er fasste den Entschluss, den Unglücklichen zu helfen, trotzdem heller Tag war. „Mein Leben steht in Gottes Hand“, sprach er zuversichtlich, kroch über die Deckung, den Verwundeten zu. Mit unsäglicher Mühe gelang es ihm, den ersten Verwundeten, einen französischen Leutnant, in Sicherheit zu bringen. Der Gerettete weinte wie ein Kind und dankte seinem Lebensretter. Aber das war dem jungen Helden nicht genug. Unter ständiger Todesgefahr gelang es ihm, noch andere fünf Verwundete zu retten. Nur noch ein Verwundeter lag zwischen den feindlichen Linien. Auch dem wollte er helfen. Schon war er beim Verwundeten angelangt, als ihn ein Schuss am Kopf traf. Blutüberströmt zog er den letzten verwundeten Feind in den eigenen Schützengraben. Damit hatte er seine letzten Kräfte aufgebraucht und viel Blut verloren. Kurze Zeit später starb der mehrfache Lebensretter seiner Feinde.

Wir bewundern die Liebe einer Mutter, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt, um ihr Kind aus Todesgefahr zu retten. Das Maß solcher Mutterliebe ist groß. Aber wenn ein junger Mann im Krieg sein Leben einsetzt, um verwundete Feinde zu retten und dabei sein eigenes Leben opfert, so ist das Maß dieser Liebe noch größer. Es war eine nüchterne Tatliebe, die nur aus einem festen christlichen Glauben entspringen kann. Gibt es eine Liebe, die das Maß der Mutterliebe und das Maß der Mitleidsliebe hilflosen Feinden gegenüber übertrifft? Ja, diese Tatliebe, die alle Maße menschlicher Liebesfähigkeit unendlich betrifft, hat sich an jenem denkwürdigen Karfreitag geoffenbart, als ein Kreuz auf dem Berge Golgotha errichtet wurde. Der Mann war der „Sohn des lebendigen Gottes“, für uns Sterbliche bleibt dieses Ereignis, das all unser Denkvermögen überschreitet, unfassbar.

Der Sohn Gottes, „durch den alles geworden ist“, stieg vom Himmel herab und hüllte sich in das Kleid unseres sterblichen Leibes. Er wollte uns unheilige Sünder mit dem allheiligen Gott versöhnen. So durchwanderte er das ganze Land und verkündete den heilsbegierigen Sündern die Heilsbotschaft: „Kehret um, das Reich Gottes ist nahe!“ Von den Unheiligen brandete ihm Feindschaft entgegen. Doch er gebrauchte seine überlegene Macht nicht wie die heutigen Diktatoren, die mitleidlos auf ihre Untertanen schießen lassen. Vielmehr bekannte er: „Der Menschensohn ist gekommen zu suchen und zu retten, was verloren war!“ Er sagte sein Leiden und seinen gewaltsamen Tod voraus und ging entschlossen nach Jerusalem, in die Stadt der „Prophetenmörder“. Auf dem Ölberg rang er im Gebete mit dem Auftrag des Vaters und sagte: „Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine!“ Er ließ sich gewaltlos gefangennehmen, schwieg zu allen Anklagen, ließ sich geißeln, verhöhnen und mit Dornen krönen. Er war so entstellt, dass Pilatus betroffen ausrief: „Ecce homo!“ So stand er vor dem Richterstuhl des Pilatus: Verraten von Judas, verleugnet von Petrus, verlassen von den Aposteln, angefeindet von den Vorstehern des Volkes, die hasserfüllt riefen: „Kreuzige ihn!“

Das Volk, das er belehrt und geheilt hatte, verlangte nicht seine Freilassung, sondern die des Mörders und Rebellen Barabbas. Während er ans Kreuz genagelt wurde, betete er: „Vater, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Es geschah, was der Prophet Jesaia vorausgesagt: „Er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Durch seine Wunden wurden wir geheilt!“ Weil das Kreuz das „Übermaß der Liebe“ Gottes zu uns Sündern so augenscheinlich offenbart, ist es zum Symbol unseres Glaubens geworden. Im Kreuz ist unser Heil!