Zeit des Reformzaubers

In einem der vielen Briefe an Lucilius schreibt der Stoiker, notorische Opportunist und steinreiche Geschäftsmann Seneca, der Mensch sei dermaßen feige, ängstlich, schwach und degeneriert, dass er eher bereit sei, die Götter zur reformieren, statt sich selber. Ein wenig trifft das auch auf ihn selber zu, wenn man sich in die Lebensgeschichte des Erziehers von Kaiser Nero vertieft... In einer der „Father Brown Stories” von G. K. Chesterton kann folgende Überlegung zum Wortfeld Reform – reformieren - deformieren gelesen werden: „Wenn´s darum geht, etwas zu reformieren – und das bedeutet die genaue Opposition zu ‚deformieren‘ - gibt es ein einziges und klares Prinzip, das wahrscheinlich auch als Paradoxon bezeichnet werden kann. Nehmen wir den Fall, dass wir ein Gesetz haben, oder eine Institution, oder – um die Diskussion zu vereinfachen – es geht um, sagen wir, einen Zaun oder ein Tor, die genau an einem Weg gebaut sind. Ein moderner Reformator geht eine solche Sache fröhlich an: ‚Ich sehe keinen Sinn in diesem Zaun: Machen wir den Weg frei!‘ Ein etwas intelligenterer Reformator tut gut daran, dem Fröhlichen zu antworten: ‚Wenn du in dem Ding keinen Sinn siehst, würde ich dich nicht ohne Weiteres den Zaun entfernen lassen. Geh erst mal nach Hause und überleg´s dir. Danach, wenn du zurückkommst, und im Stande bist, mir zu sagen, welchen Sinn du in diesem Zaun hier siehst, wäre ich vielleicht bereit, dir zu erlauben, den Zaun niederzureißen.‘” 

Wir erleben Zeiten des Zaubers der REFORM. Das heißt auch, dass wir alle mit dem Bewusstsein der Deformierung der Normalität (in allen Bereichen) leben, wenn die Reform eine so magische Kraft entfalten kann. Oder würden Sie einen Politiker wählen, der nichts reformieren will?! Vielleicht ist dieses vage Gefühl des Fehlens der Korrektur (und der Korrektoren von Entgleisungen, von Deformierungen) das massenpsychologische Geheimnis des Erfolgs der „Reformparteien” - den wir auch in Rumänien mit USR-PLUS und sogar mit AUR erlebt haben (die Rechtsextremen mal ihrer Nationalismen entkleidet...).

Hierzulande gibt sich jeder Politiker als Reformator aus, als simpelster Nachweis der Notwendigkeit seiner Existenz. Reformen sollen laut „Reformatoren” rascher, tiefgreifender, umfassender, endlich durchgeführt werden, weil es einfach SO nicht weitergehe. Seit 30 Jahren geht es SO nicht weiter und deshalb brauchen wir seit 30 Jahren Reformen. Nur: Die Reformforderer erheischen seit 30 Jahren imperativ Reformen und mutieren so zu Profis der Reform, die von der Deformierung und mit ihr bestens leben, mit „ihrer Reform” einfach ihr Zuckerbrot runterschlucken.

Schauen Sie mal Barna/USR, Cîţu/PNL oder Ciolacu/PSD in die Augen – sofern ein Kameramann Ihnen das im Fernsehen ermöglicht – wenn die vom „Reformieren” sprechen! Ihr Gesicht, ihre Augen sind leer. Als unser lieber Präsident (nach Jahren: endlich!) von seiner Unterrichtsreform („România educată”) sprach und die ganze Regierung sich zustimmend durch die Medien nickte, sind uns weder sein Gesicht noch die Augen in relevanter Nahaufnahme gezeigt worden... 

Aber macht nix! Wir KÄMPFEN weiterhin für REFORMEN – und werden darüber vielleicht noch Politiker.

Im Ernst: Die unterwürfige (oder, Oppositions-Variante: hasserfüllte) Art, in der Öffentlichkeit (in einem Land, das in 30 Jahren ebenso viele Bildungsminister „konsumiert” hat, die ausnahmslos alle das Unterrichtswesen reformieren wollten) über die präsidiale Bildungsreform zu reden, kann zu keinem realen Gedankenaustausch führen, während alles grundsätzlich viel zu einfach ist: den nächsten Generationen ist einfach ein freies, vernunftsbetontes, produktives, kritisch-konstruktives  Denken anzuerziehen. Vernunftbasierter Zweifel ist jederzeit zu fördern: Dubito, ergo cogito, cogito, ergo sum. 

Das Gesellschaftsleben erfordert von niemand mehr.