Zwischen Chronos und Kairos

„Bleib auf dem Weg!“ rief der Vater seinem Sohn nach, als jener zu seinem neuen Studienort aufbrach. Noch ein letzter pädagogischer Fingerzeig – mit Nachdruck, dachte der Sohnemann. Doch dem war nicht so. Verlässt man einan-der auf einem Weg, so ist die Chance, sich irgendwann, zum geeigneten Zeitpunkt, wieder zu finden, sich irgendwo, auf eben jenem Weg, wieder zu begegnen, am größten. Was wäre das für ein Augenblick!

Wie bei Langstreckenläufern gibt es eben einen besonderen Zeitpunkt, an dem sie nach 42 Kilometern durchs Ziel laufen: ein Glücksmoment oder auch ein epiphaner Moment, auf den man hingewirkt hat oder der sich aufgrund bisheriger Erfahrungen intuitiv ergab, jedenfalls Sinn stiftend.

Der Alltag mit dem durchgetakteten Leben, einem Tag dem nächsten folgend, oberflächlich, eine Sache nach der anderen erledigend, entspricht dem griechischen Chronos. Und dann ergibt sich eine Situation, bei der man die Gelegenheit am Schopfe packt, bei der alles eine tiefere Bedeutung oder eine günstige Änderung erfährt, was dem griechischen Kairos entspräche.

Wie mag sich der Dramatiker Thomas Perle nach diesem Sommer gefühlt haben, als er kürzlich in Wien den über Österreich hi-naus strahlenden Theaterpreis „Nestroy“ als Autor für das beste Bühnenstück „karpatenflecken“ entgegen nahm? Während er nun in Hermannstadt als „unser“ Thomas Perle bezeichnet wird, hat er im Spätsommer einen veritablen Shitstorm in Temeswar erlebt, wo er als Stadtschreiber seine Eindrücke literarisch verarbeitet hat. Mit wenigen missliebigen Äußerungen, vor einem noch erforderlichen Feinschliff voreilig online gestellt, gab er auf dem Blog Anlass für Kritik, insgesamt aber auch für Wertschätzung seiner experimentellen Literatur. Die mehrfache  Schmähkritik mit ausgrenzenden Forderungen – unmittelbar vor einer seiner Uraufführungen publiziert – führte zeitweise zur Schreibblockade. Warum er dagegen nicht öffentlich Stellung bezogen habe? Der passende Moment werde noch kommen.

Gute Literatur – und wirkt sie von der Bühne – lässt uns nicht vergessen: Es sind die kreativen, geistreichen, wie auch schlicht glücklichen Momente, die unserem Leben Tiefgang verleihen an der Meeresoberfläche des Alltagsgeschehen treibend. Bei solchen Gelegenheiten wird klar: Grundsätzliches Wohlwollen sollte dominieren, auch sich selbst gegenüber. Sich selber treu bleiben, seinem Weg folgend, wird man Chronos leichtfüßig überwinden und Kairos begegnen. Doch läuft jene altgriechische Gottheit an einem vorbei und man packte sie nicht am Schopfe/der Haarlocke, so verstreicht rasch die günstige Gelegenheit und man bekommt sie am kahlgeschorenen Hinterkopf nicht mehr zu fassen.