Zwischen Klickheischen und Qualitätsberichterstattung

Deutsch-rumänische Medientagung über Herausforderungen und Chancen im Online-Journalismus

Diskussionspanel „Online-Journalismus - das Handwerk: kurz und reißerisch?“ mit Cătălin Prisăcariu (v.l.), Keno Verseck, Robert Schwartz, Ioana Ene Dogioiu.

Diskussionspanel „Hauptsache Schnelligkeit? Wie verändert Online-Journalismus die Arbeitsweise?“ mit Maike Freytag (v.l.), Botschafter Cord Meier-Klodt, Miodrag Soric, Emilia Șercan, Teodor Ti]˛ Fotos: Nina May

Journalismus wird längst nicht mehr nur von Journalisten gemacht, seit es Internet und Social Media gibt. Die alte Ordnung von Print, Hörfunk und TV existiert nicht mehr. Laienberichterstatter und Influencer, Blogger, Vlogger und Trolle buhlen um die Gunst der Leser mit sensationsgeilen Titeln und flachem Polit-Infotainment. „In Rumänien lesen 80 Prozent der Bürger Nachrichten auf Facebook“, schockiert Cătălin Prisăcariu, Journalist bei Newsweek Romania. Nachrichten verbreiten sich dort lawinenartig in Sekundenschnelle  - Fake News inbegriffen. Der Faktencheck, wenn er denn stattfindet, und die folgende Richtigstellung kann die Falschmeldung nicht mehr einholen. Wie kann seriöser Journalismus sich vor diesem Hintergrund als „vierte Gewalt im Staat“ noch behaupten? Ist er im Online-Medium überhaupt noch gefragt? Gibt es eine legitime Gratwanderung zwischen zwangsbedingtem Klickheischen und dem Anspruch nach seriöser Qualitätsberichterstattung?

„In den letzten 15 Jahren hat sich der Journalismus mehr verändert als in den letzten 150 Jahren“, leitet Miodrag Soric, Chefkorrespondent der Deutschen Welle, seinen Vortrag auf der diesjährigen Medientagung ein, die die deutsche Botschaft zusammen mit der Deutschen Welle am 4. Dezember zum Thema „Online-Journalismus: Herausforderung und Chance“ in Bukarest veranstaltete. 

Will man die junge Generation der „digitalen Nomaden“ erreichen, müssen immer mehr Formate bespielt werden: Video, Social Media, Podcasts. Zwangsläufig wandelt sich auch die Form der Berichterstattung: „Die meisten Leute lesen Nachrichten auf dem Smartphone zwischen zwei U-Bahn Stationen“, vermittelt Online-Journalistin Ioana Ene Dogioiu von ziare.com. Entsprechend kurz und einfach strukturiert muss auch der Inhalt sein. Für die kostenlosen Online-Medien gilt zudem: Der Titel muss neugierig machen, denn bezahlt wird nur nach Klick. Zwangsläufig wird daher mit reißerischen Headlines um diesen gebuhlt – für seriöse Journalisten ein Greuel, bekennt Ene Dogioiu. Robert Schwartz (Deutsche Welle) provoziert mit einem Zitat von RTL-Chef Helmut Thoma: „Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler!“

Warum am alten Kochrezept festhalten?

Drei Aspekte seien im Zusammenhang mit Online-Journalismus zu betrachten, meint Botschafter Cord Meier-Klodt. Erstens: Fake News, deren unheilvolle Saat erst durch das Medium Internet so richtig aufgeht. Zweitens: eine Flut an unangenehmen Nachrichten im Sinne „die böse Welt da draußen“, frei nach dem Geschäftsmodell „good news is no news, bad news sell“ (gute Nachrichten sind keine Nachrichten, nur schlechte Nachrichten verkaufen sich). Drittens: Online-Medien, die populistischen oder EU-kritischen Stimmen eine Plattform bieten. Seriöser Journalismus, fordert der Diplomat heraus, soll dem Leser helfen, das „undurchsichtige Gestrüpp zu trennen und das Propaganda-Unkraut zu jäten“.  Also:  Informationen einzuordnen, „damit wir die Welt besser verstehen“. 

„Was sich nicht geändert hat im Journalismus“, fährt Miodrag Soric fort, „ist der Grundsatz, fair und gründlich zu berichten.“ Dabei gelte nach wie vor: richtig hat Priorität vor schnell. Hehre Ansprüche - doch lassen sie sich unter den neuen Bedingungen noch halten? Warum überhaupt am berufsethikbasierten traditionellen Kochrezept festhalten, wenn der zahlende Kunde billiges Fastfood verlangt? Dem Fisch soll es doch schmecken…
Doch nicht umsonst gelten Medien als „vierte Gewalt im Staat“ neben Legislative, Exekutive und Judikative. Was passiert, wenn seriöser, unabhängiger Journalismus fehlt, demonstrierte das Dritte Reich. In Deutschland wurde nach dessen Fall der öffentlich-rechtliche Rundfunk gegründet, weil man sagte, was Hitler und sein Reichspropagandaleiter Goebbels aufgezogen hatten, um das Volk zu manipulieren, dürfe nie wieder möglich sein. Soric vergleicht das deutsche System mit den USA, wo es keinen öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt: Dort sei Fox News das Sprachrohr des Präsidenten, CNN gegen den Präsidenten, Journalisten ergriffen stets für eine Seite Partei. Dass die Demokratie trotzdem als stabil gilt, sei den funktionierenden Institutionen zu verdanken: „Ein Richter in Hawaii kann dem US-Präsidenten widersprechen“, illustriert Soric.

Zu freiem, unabhängigem Journalismus gehöre auch ein angemessener Lohn, den das öffentlich-rechtliche System in Deutschland garantiere, fährt dieser fort. „Faire Bezahlung ist eine gute Investition in die Demokratie.“ In Rumänien hapert es in diesem Punkt, melden sich Teilnehmerstimmen: Kaum ein Journalist bleibe seiner Tätigkeit länger als vier Jahre treu.  Danach wird er entweder Chef oder wandert in den PR-Bereich ab. „Und wer soll für die Unabhängigkeit der Medien garantieren? Wer investiert in die Presse ohne eigenes Interesse?“, lautet ein Einwurf. „Die Presse ist Business“, bestätigt Journalist Teodor Tiță (Dilema Veche). Essenziell sei jedoch Transparenz, was die Finanzierung betrifft.
Wenn Miodrag Soric jungen Journalisten einen Rat geben würde, dann sei es der, im Beruf Charakter zu bewahren. Menschliche Qualitäten und eine gewisse Demut seien ebenso wichtig wie Kompetenz. 

Faktenchecker auf dem Prüfstand 

Wie kann man dem erstgenannten Problem des Online-Journalismus, den Fake News, wirksam begegnen? Ein journalistisches Instrument ist der Faktencheck, das Prüfen von Aussagen von Personen anhand von objektiven Fakten und nachvollziehbaren Argumenten. Spezialisierte Internet-Plattformen haben sich dieser Aufgabe verschrieben. Sie prüfen Nachrichten aus verschiedenen Quellen und veröffentlichen eine Bestätigung oder Richtigstellung. In Rumänien werden auf www.factual.ro Aussagen von Politikern verifiziert oder als Lüge enttarnt, ein Menüpunkt „Präsidentschaftswahlen 2019“ listet überprüfte Behauptungen von Johannis und Dăncilă, weitere visieren Aussagen zu Themen Politik, Justiz, Finanzen, Energie und Ausland. Diese werden oft von Nachrichtenplattformen übernommen, so gelangen auch Informationen von zivilen Initiativen wie „Funky Citizens“ in den Kreislauf der Mainstream-News, erklärt PressOne Reporterin Emilia Șercan. Die EU wehrt sich auf euvsdisinfo.eu gegen antieuropäische Propaganda aus Russland. Im deutschen Fernsehen wird der Faktencheck immer häufiger nach Polit-Talkshows durchgeführt (Beispiel: Faktenfinder auf  www.tagesschau.de).  

Faktencheck ist jedoch nur bedingt geeignet, der Wirkung von Fake News zu begegnen. Zum einen kann der Faktenchecker mit der Flut der kurzlebigen Nachrichten, die in Echtzeit durch den Äther strömen, nicht annähernd mithalten. Zum anderen verbreiten sich reißerische Falschmeldungen schneller und streuen breiter als die wenig aufsehenerregende Korrektur. Die größte Schwachstelle aber erwähnt Keno Verseck von SpiegelOnline: den vorsätzlichen Betrüger im System, der seine Reportagen schönt oder gar erfindet! Ende 2018 vom Spiegel selbst aufgedeckt, hatte der Fall Claas Relotius - „ein Starreporter, mehrfach prämiert“ - für riesiges Aufsehen gesorgt. Doch die beste Dokumentationsabteilung kann nicht vollständig überprüfen, was die Quelle dem Reporter unter vier Augen erzählt hat oder was ein Mann nachts in einer Wüste tut. 
Trotzdem spricht sich auch Verseck als vehementer Anhänger von Faktenchecking aus. „In Deutschland gibt es unzählige Fake News über Migranten – und Medien, die das zweimal die Woche überprüfen und publizieren.“
Auch die Deutsche Welle wendet viel Zeit und Manpower für die Kontrolle von Nachrichten, die von Agenturen übernommen werden, auf. „Wenn man etwas verbreitet, das nicht stattgefunden hat, ist das Vertrauen schnell zerstört“, warnt Soric. Das größte Kapital eines Mediums oder Journalisten ist und bleibt seine Glaubwürdigkeit!

Der Köder, der zum Lesen verführt...

Wie kann man dem Druck des Online-Mediums begegnen, der reißerischen Headlines und kurzen Skandalnachrichten automatisch den Vorzug gibt? Ioana Ene Dogioiu beschreibt das Dilemma: „Wir verdienen in Abhängigkeit der Klicks - also muss der Titel den Leser unbedingt zum Draufklicken motivieren.“ Ein paar Tricks und Kniffe: Auf keinen Fall darf im Titel oder im ersten Paragraphen schon die Kernaussage enthalten oder der Inhalt vorweggenommen sein. Und doch muss die Headline den Erwartungen gerecht werden. „Wenn man die Geschenkbox öffnet“, meint auch Verseck, „sollte drin sein, was versprochen wurde.“ Leider fördern diese Umstände manipulative Titel, etwa aus dem Kontext gerissene oder verkürzte Zitate. Als unglückliches Negativbeispiel führt Ene Dogioiu eine nicht ganz wörtlich getroffene Aussage von Dan Barna an, die in einem Interview im Zusammenhang mit dem Mordfall in Caracal fiel. Als Titel war dann zu lesen: „Wenn ich Präsident gewesen wäre, wäre die Tragödie von Caracal nie passiert.“ Tatsächlich geht es in dem Artikel jedoch um Stellungnahmen allgemeiner Natur zum „System“ - enttäuschend.

Eine große Herausforderung besteht darin, den Leser zum Anklicken größerer Artikel zu bewegen. Wenn schon im Header „Analyse“ oder „Interview“ steht, klicken die meisten erst gar nicht drauf, musste Ene Dogioiu erkennen – obwohl es auf ziare.com durchaus Klientel gibt, das auch ausführliche Berichterstattung schätzt, bemerkt die Online-Journalistin. Paradoxerweise existieren aber auch Themen, die zwar in aller Munde sind, doch wenn man dazu einen Beitrag schreibt, wird er kaum beachtet. Beispiele sind das Gesundheitswesen oder Unterricht und Erziehung.

Je kürzer der Artikel, desto oberflächlicher zwangsläufig der Inhalt. Doch wie verleitet man zum Lesen ausführlicher Berichte? Robert Schwartz rät, Videoclips als Neugierigmacher einzubinden: Die meisten Klicks, so seine Erfahrung, erzielten vierminütige Reportagen - selbst über ungewöhnliche Themen. Als Beispiel nennt er einen Clip über Fernfahrer, der drei Millionen Klicks erhielt! Neugierig geworden, lasen davon etwa 10.000 auch den langen Artikel. Visuelle Elemente lassen sich gezielt als Köder nutzen: die Kamera, die life aus dem Storchennest überträgt, einen authentischen Eindruck aus einem Dorf in Laos vermittelt oder zeigt, wie in schwindelnder Höhe etwas montiert wird. Neugierig machen können auch Fragen als Titel. Je mehr Sinne impliziert sind, je direkter der Leser angesprochen wird, desto höher das Aufmerksamkeitspotenzial. 

Klickheischen oder Qualitätsjournalismus? Das eine schließt das andere trotz Kompromisse nicht aus. Journalistische Ethik hochhalten und Charakter zeigen? Wer diesen Anspruch zu erfüllen sucht, wird auch einen entsprechenden Leserkreis anziehen. Nicht den sensationslüsternen, unterhaltungssüchtigen oder polarisierenden - sondern den, den man verdient.