Stets überraschend: die baltischen Hauptstädte

Eine kurze Reise von Tallinn über Riga nach Vilnius

Schwarzhäupterhaus und Petrikirche im Zentrum von Riga

Blick über Tallinn von der Aussichtsplattform

Resistent gegen Diäten jeglicher Art: die „Dicke Margarete“ in Tallinn.

Die Kathedrale Sankt Stanislaus in Vilnius
Fotos: Christine Chiriac

Wer die klassischen Reiseziele in Europa meiden und doch spannende Ferien haben will, sollte sich einmal die  – kleinen und feinen  – baltischen Länder anschauen. Um so viel wie möglich besuchen zu können, wäre es ideal, mindestens eine Woche in jedem Land zu verbringen, aber nur wenige leisten sich diesen Luxus – ich jedenfalls (noch) nicht. Trotzdem musste ich es mir nicht lang überlegen. Der Vorteil für eine kurze Reise ins Baltikum war mir klar: Vom nördlichen Punkt Estlands bis zum südlichsten in Litauen ist die Strecke kürzer als von Sathmar/Satu Mare bis ans Schwarze Meer. Einige Zahlen: Estland hat 1.300.000 Einwohner, Lettland knapp doppelt so viel, Litauen fast noch eine Million dazu.

Ich entschloss mich also, erst einmal die Hauptstädte kennenzulernen und schon hatte ich die Tickets gebucht. Die Busverbindungen zwischen den Hauptstädten sind sehr gut: Vier Stunden und etwa 10-13 Euro kostet es jeweils von Tallinn nach Riga und von Riga nach Vilnius (Infos und Buchung z. B. über www.ecolines.net). Die Natur und die Landschaften, die man unterwegs sieht, sind bezaubernd, vielleicht auch weil das Licht milder, schräger, „nördlicher“ fällt. Sprachlich kommt man mit Englisch vor allem bei jungen Einheimischen sehr gut zurecht, doch wer auch ein wenig Russisch kann, hat großen Vorsprung. Estnisch, Lettisch und Litauisch hören sich sehr schön an, aber als deutsch- und rumänischsprechender Mensch versteht man nicht viel mehr als ein halbes Wort alle paar Sätze.

Allgemein ist es spannend zu sehen, wie die Länder mit dem sowjetischen Erbe umgehen und wie die älteren Baudenkmäler mit dem ehemaligen Glanz wieder zum Vorschein kommen. Tallinn, Riga und Vilnius sind alle drei „schön herausgeputzt“, erstere zwei mit Spuren aus der Zeit des Deutschordensstaats und umfassendem mittelalterlichem Erbe, Letzteres als Vielvölkerstädtchen mit wechselvoller Geschichte. Tallinn war voriges Jahr Kulturhauptstadt Europas, Vilnius schon 2009, Riga wird es noch in zwei Jahren werden, alle drei Altstädte gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe. Trotzdem bleiben die Übernachtungspreise günstig: Wer nicht viel Geld ausgeben will, findet auch mitten in der Innenstadt billige Ho(s)tels (z.B. über www.booking.com).

Tallinn

Reval, wie der deutsche Ortsname von Tallinn lautet, ist laut UNESCO ein „außergewöhnlich vollständiges Beispiel einer mittelalterlichen nordeuropäischen Handelsstadt“. Im Zentrum der Unterstadt liegt der Rathausplatz mit dem gotischen Rathaus, einem der Wahrzeichen von Tallinn. Sympathisch an der Spitze des Turms ist der „Alte Thomas“, ein kleiner Landsknecht aus Metall, der als Wetterfahne dient. Die Stadtmauer ist beeindruckend – im Mittelalter soll Tallinn eine der am besten befestigten Städte an der Ostsee gewesen sein.

Heute stehen noch etwa zwei Kilometer Mauer und mehr als 20 Türme. Ein Kanonenturm – mit stolzen 25 m Durchmesser – trägt den lustigen Namen „Dicke Margarete“. Sein Gegenpart, der „Lange Hermann“, befindet sich auf dem Domberg. Der Dom selbst, ursprünglich römisch-katholisch und seit der Reformation lutherisch, gehört neben der spätgotischen St. Nikolaikirche und der  russisch-orthodoxen Alexander-Newski-Kathedrale zu den wichtigsten Sakralbauten Tallinns.

Letztere war mit ihren Zwiebeltürmen früher ein Sinnbild der Russifizierungspolitik, gehört aber heute zu den geschätzten Sehenswürdigkeiten. Einen hervorragenden Blick über ganz Tallinn bis hin zum Hafen (auf Estnisch „Sadam“!) bietet die öffentlich zugängliche Aussichtsplattform. Auch die Gebäudegruppe „Drei Schwestern“  – Kaufmannshäuser aus dem 15. Jahrhundert -– und das Haus der Schwarzhäupter-Bruderschaft müssen unbedingt gesehen werden. Die Bruderschaft selbst ist typisch für Alt-Livland (Estland und Lettland) – als Verein unverheirateter deutschstämmiger Kaufleute war sie in Tallinn bis 1940 aktiv.

Und nun zum leiblichen Wohl: Die „Olde Hansa“ und der „Peppersack“ gelten als Erlebnisrestaurants, auch wenn die Preise hochstilisiert sind. Ambiente, Dekorationen, Bedienung (mittelalterlich gekleidet) machen einen Besuch empfehlenswert. In den Handwerkerbuden und den Geschäften nebenan kann man Kleinigkeiten als Souvenirs oder kuschelige estnische Pullis kaufen. Noch eine Eigenart, über die ich bei der Fahrt von Tallinn nach Riga lächeln musste: am Straßenrand sieht man oft „Achtung Wild“-Schilder, aber nicht mit Rehen wie bei uns, sondern mit Elchen!

Riga

Auch Riga mit dem heutzutage größten Ballungsgebiet des Baltikums ist ursprünglich eine Hansestadt am Meer und hat bereits ihren 800. Geburtstag gefeiert. Unweit liegt der Badeort Jurmala mit weißem Sandstrand, schwefelhaltigen Heilquellen, Freizeiteinrichtungen und Villen. Berühmt ist Riga für die Jugendstil-Architektur, für den Marktplatz im Zentrum, für das wunderschöne Schwarzhäupterhaus mit der Fassade im Stil der niederländischen Renaissance.

Letzteres wurde im Krieg zerstört und Ende der neunziger Jahre wieder aufgebaut. Nebenan befindet sich das Lettische Okkupationsmuseum – die Dauerausstellung zeigt Dokumente, Objekte und Fotos, auch das Modell einer Baracke aus den Lagern des Gulag, die vom totalitären Regime Zeugnis tragen. Eine weitere wichtige Sehenswürdigkeit, nicht zuletzt für die Musikfreunde, ist der Dom, dessen Grundstein 1211 gelegt wurde. Die Walcker-Orgel aus dem 19. Jahrhundert zählt zu den größten der Welt und spielt regelmäßig für das Publikum, allerdings sind die Konzertkarten ziemlich teuer.

Lustig fand ich das „Katzengebäude“ und seine Geschichte: Ein Kaufmann, den man nicht in die Gilde aufnehmen wollte, ließ an den Ecken des Daches Katzen bauen, die in Richtung des Gildenhauses ihren Hintern zeigen. Eine Provokation!

Zweimal erinnerte mich Riga an die Heimat: Zunächst durch das Rigaer Schloss, heute Sitz der Staatspräsidentschaft, ursprünglich Ordensschloss des Livländischen Zweigs des Deutschen Ordens; dann auch durch die traditionellen lettischen Volkslieder und Gedichte, die „Dainas“ (im Singular „Daina“) heißen.

Der Begriff soll Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Litauischen entlehnt worden sein. Lettische „Dainas“ und litauische „Dainos“ sind für das ethnische Bewusstsein der beiden Völker besonders wichtig und stellen für die Erforschung der baltischen Mythologien und Sprachen eine wertvolle Quelle dar. Ob es eine Verbindung zur rumänischen „Doina“ gibt?

Apropos Sprachen: in der Altstadt gibt es auch eine schöne „Riharda Vagnera iela“, eine Richard-Wagner-Straße, denn der prominente Opernkomponist  war von 1837 bis 1839 Kapellmeister an der Rigaer Oper. Hier entstand der Text und der Beginn seiner Oper „Rienzi“.

Vilnius

Im Gegensatz zu den Hauptstädten der baltischen Nachbarländer wurde Vilnius nie vom Deutschen Orden kontrolliert. Die Stadt trägt aber viele Namen, die von ihrer multikulturellen Vergangenheit (leider nicht auch Gegenwart!) zeugen: deutsch und russisch heißt sie „Wilna“, polnisch „Wilno“, weißrussisch „Wilnja“, jiddisch „Wilne“. Dazu noch die Beinamen: „Jerusalem des Nordens” (Vilnius war ein wichtiges Zentrum der jüdischen Kultur und Aufklärung) oder „Rom des Ostens“ (weil es hier über 50 Kirchen gibt).

Dementsprechend bietet auch das Tourismusbüro (www.vilnius-tourism.lt) thematische Stadtpläne und Rundgänge an – z. B. „Spuren der Geschichte des litauischen Staates“, „Polnisches Erbe in Vilnius“ „Jüdisches Vilnius“ oder „Deutsche Kultur“.

Wahrzeichen der Stadt sind die Ruine der Burg von Gediminas auf dem Gediminas-Berg, die klassizistische römisch-katholische Kathedrale Sankt Stanislaus – ein strahlend weißes Gebäude mit etwas abseits stehenden Glockenturm – und das „Tor der Morgenröte“ an der historischen Stadtmauer. Auch die St.Annen-Kirche ist ein Meisterwerk: der riesige spätgotische Sakralbau hat sich seit Jahrhunderten kaum verändert. Oberhalb der Altstadt liegt  der Rasu-Friedhof, wo zahlreiche prominente Litauer und Polen begraben sind (auch das Herz von Jozef Pilsudski ruht hier).

Von den 105 Synagogen in Vilnius ist heute nur noch eine, die Choral-Synagoge, erhalten geblieben. Auch vom Ghetto – ehemals als „Jerusalem der Ghettos“ bekannt – bleibt heute nur wenig übrig. Die engen Gassen, die Geschäfte und die Restaurants empfehlen es als Flaniermeile. Das Große und das Kleine Ghetto sind voneinander durch die „Deutsche Straße“ (Litauisch „Vojkieciu gatve“) getrennt, auf der sich in einem Hof versteckt die schöne evangelische Kirche befindet. Sehenswert ist auch das Stadtviertel „Užupis“ (auf Deutsch: Hinter dem Fluss), das früher ein unbeachtetes Eck war und heute als „unabhängige Künstlerrepublik“ bekannt geworden ist.

Das „Parlamentsgebäude“ ist ein Café, die „Verfassung“ kann auf einer Bronzetafel nachgelesen werden. Einzelne Artikel daraus habe ich mir gemerkt: „Jeder Mensch hat das Recht, beim Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen“; „Jeder Mensch hat das Recht zu sterben, aber das ist keine Pflicht“ oder „Jeder Mensch hat das Recht, einzigartig zu sein.“ An letzteres Gesetz scheinen sich die baltischen Hauptstädte selbst zu halten: einzigartig sind sie, und stolz darauf.